Der geheimnisvolle Weg nach innen

Rezensiert von Eberhard Straub · 29.05.2011
Carl Schmitts jetzt veröffentlichte Tagebücher der Jahre 1930 bis Mitte 1934 beschreiben eine Zeit, die aus den Fugen geraten ist. Der Zeit-Genosse schwimmt wie die Butter auf der heißen Kartoffel im hektischen Berlin.
"Wenn ich heute meine Tagebuch-Notizen nachlese, frage ich mich: was war denn das überhaupt für eine Existenz? Da schreibt einer über den 'Begriff des Politischen', da macht einer aus nächster Nähe die interessantesten Dinge mit, macht sich Gedanken, findet eine schöne Theorie von der 'politischen Prämie auf den legalen Machtbesitz' und führt dabei solch eine private Existenz."

Die jetzt veröffentlichten Tagebücher der Jahre 1930 bis Mitte 1934 bestätigen eklatant diesen Eindruck. Die Zeit ist aus den Fugen geraten und der Zeit-Genosse schwimmt wie die Butter auf der heißen Kartoffel im hektischen Berlin, wo keiner auch nur eine halbe Stunde mit sich allein zu sein vermag.

Carl Schmitt hatte versucht, sich am 9. Dezember 1931 mit einem Buch über "Das widerspenstige Fleisch" von einer Liebesaffäre abzulenken, die ihn leidenschaftlich beschäftigte. Der Roman beruhigt ihn nicht. Seine Gefühle kommen ihm kindisch und lächerlich vor. Er denkt dennoch an die Geliebte, geht in einen Buchladen,

" … ließ Hella meinen 'Römischen Katholizismus' und Wilde schicken. Abends plötzlich Niekisch angerufen. Er kam, wir tranken Wein, war pessimistisch und traurig ... Wir tranken noch Bier. Er ist verzweifelt, die Goten am Vesuv, das ist unsere Lage. Teilung Deutschlands zwischen Frankreich und Russland. Todmüde, um 1 zu Hause."

Die Folge davon war am anderen Morgen:

"Scheußlich müde, deprimiert, zu Hause herumgelegen, sehr spät aufgestanden ... nachmittags traurig zur Hochschule ... Hella kommt glücklicherweise doch, einen Augenblick bei ihr in meinem Zimmer. Großes Berauschen bei diesem weißen Fleisch."

Nach dem Seminar hört er einen Vortrag, dem sich geselliges Reden bis Mitternacht anschließt. Mit der Folge:

"Wieder lange geschlafen, scheußlich dieses Weintrinken. Spät auf, 11 – 1 Vorlesung, ziemlich gut, aber es ist traurig vor diesen kümmerlichen Studenten."

Später geht er mit Ernst Jünger spazieren. Dann trifft er dessen Freund Veit Roßkopf, einen Rundfunkredakteur und begeisterten Nationalsozialisten, der mit einem Opernlibretto nicht recht voran kam. Endlich kann er die Geliebte sehen, mit ihr im Kino Zärtlichkeiten austauschen, später beim Wein zusammensitzen und in einer kleinen Konditorei Beteuerungen hören: Ich liebe Dich sehr, lieber Carl. Dort stößt der Schriftsteller Franz Blei zu den Verliebten und später auch noch Carl Schmitts Frau Duschka, die mit dem Journalisten Paul Adams, einem Zentrumsmann, aus dem Theater kommt, weshalb wieder Wein bestellt wird. Folglich am Morgen:

"Todmüde, scheußlich ... Sehr traurig, vereinsamt, dabei glücklich in der Erinnerung an Hella. Ganz verliebt, mich dieser Verliebtheit überlassen."

Diese Passion bringt ihn zuweilen nahezu um den Verstand und treibt ihn erst recht in die Arme beliebiger Huren. Bei den Übungen seiner immer wieder erwähnten Geilheit vergisst er seine Depressionen, dauernde Gefühle der Verzweiflung, der drohenden Katastrophe, des Untergangs. Den nationalen Zusammenbruch – sei es im Übergang in das nationalsozialistische Chaos oder in den Kommunismus – verband er unmittelbar mit seiner eigenen Vernichtung. Er war ein gefragter Redner, schrieb und sprach ununterbrochen, er galt als geistreich und ungemein anregend.

Aber er fühlte sich missverstanden, nicht respektiert, vereinsamt, abgeschnitten, isoliert. Seine Singularität peinigte ihn, weil keiner ihn aus ihr erlöste. Keiner - das meinte Brüning und die Reichsregierung. Sie riefen nicht an, sie erbaten keinen Rat von ihm mit seiner großen Überlegenheit. Er ärgerte sich dann wieder über sein dummes Geltungsbedürfnis und fand sein Leben einfach lächerlich, fürchtend, von den Alten ausgelacht und von den Jüngeren nicht ernst genommen zu werden.

Dabei war er ein berühmter Mann, um 1932 der berühmteste deutsche Jurist, den auch Franzosen und Italiener aufmerksam beobachteten. In Berlin verkehrte er mit sämtlichen akademischen Unfehlbarkeiten, die ihn als eleganten Intellektuellen und als polemisches Talent verwöhnten, selbst wenn sie seine Thesen für überspitzt oder gar nicht hilfreich hielten. Beamte, Offiziere, Unternehmer fanden an ihm Gefallen. Künstler schätzten ihn als guten Kameraden, als Bohemien unter ihresgleichen.

Seine Tagebücher sind eine Quelle für die dringend notwendige Geschichte der Berliner Gesellschaft, zu der Carl Schmitt gehörte. Die er aber nicht mochte. Sie war ihm zu bürgerlich, von der Geschichte widerlegt, ein Gespensterhaufen, dem Tode geweiht. Von kleinbürgerlicher Herkunft, fürchtete er überall bourgeoise und feudale Vorurteile. Mit dem Prinzen Karl Anton Rohan war er sich politisch meist einig,

"aber ich fühlte doch den Feudalen (oder eingebildeten Feudalen), der mich benutzen will, sich als Herrenmensch fühlt. Wie dumm mir das auch noch zu sagen. Ernüchtert nach Hause."

Mit den reichen oder kultivierten Juden ging es ihm nicht anders. Er verkehrte bis 1933 freundlich mit ihnen, doch im Gefühl anarchistischer Isoliertheit witterte er in ihnen den Feind schlechthin und einen ganz eigenen Feind, der ihm den Zugang zum Machthaber versperrte.

Sehr spät – über Franz von Papen - wurde er für ein paar Monate der "Kronjurist" einer Republik, der nicht mehr zu helfen war. Carl Schmitt war verzweifelt. Er hatte, um Hitler aufzuhalten, die Diktatur des Reichspräsidenten für die letzte, noch erfolgversprechende Lösung empfohlen. Damit konnte er sich nicht durchsetzen. Auch Theodor Heuss ermächtigte lieber Adolf Hitler, als sich auf solche Experimente einzulassen. Carl Schmitt, nicht sicher, ob die NSDAP ihm Chancen zur Mitarbeit einräume, wurde durch den Vizekanzler Papen für die "neue Zeit" gewonnen. Bruder Jup mahnte zur Vorsicht. Carl überhörte den Rat. Am 1. Mai 1933 schrieb er:

"Großer Feiertag der Nationalen Arbeit … Der Rektor Leupold sprach großartig. Dann … ein junger SA-Mann ... patzig und zu arrogant. Begeistert das Horst-Wessel-Lied gesungen. Oft Angst vor seiner chthonischen Brutalität und Wucht."

Trotz dieser Angst suchte er den Zugang zu den neuen Machthabern. Damit scheiterte er, bald in eine öffentliche Isolierung getrieben, die er privat freilich nie erleben musste, weil nach innen der geheimnisvolle Weg führt, was der Ehrgeizige nun endgültig erfuhr.

Carl Schmitt: Tagebücher 1930 bis 1934
Hrsg. von Wolfgang Schuller in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler
Akademie Verlag, Berlin 2010
Cover: "Carl Schmitt: Tagebücher 1930 bis 1934", hrsg. von Wolfgang Schuller
Cover: "Carl Schmitt: Tagebücher 1930 bis 1934", hrsg. von Wolfgang Schuller© Akademie Verlag