Der falsche Anspruch

Von Markus Reiter |
Fragt man Wähler, welche wichtigen Eigenschaften sie von Politikern erwarten, steht die Prinzipientreue ganz oben. Leider liegt die Sache ein wenig anders.
Politiker, so sagen die Wähler, sollen unumstößlich zu ihren Überzeugungen stehen und sich von niemandem beirren lassen. Gelegentlich wandelt sich diese Erwartung sogar ins Groteske, wenn nämlich Wähler den Politiker vorwerfen, sie würden nur nach Umfragen schielen – mithin also, ihre Überzeugungen an denen ihrer Wähler ausrichten.

Auch diverse Altkanzler und Altministerpräsidenten fordern ihre Nachfolger auf, sich von einem Kompass fester Überzeugungen leiten zu lassen. Leider liegt die Sache ein wenig anders: In Wirklichkeit sind prinzipientreue Politiker schlechte Politiker. Sie bringen das gesamte politische System durcheinander und würden mit ihrer Standhaftigkeit das Land am Ende ins Unglück führen. Das ist keineswegs ironisch gemeint.

Natürlich dürfen Politiker fundamentale Verfassungsprinzipien niemals zur Disposition stellen. Bei Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz, Demokratie und Meinungsfreiheit gilt es in der Tat standhaft zu bleiben. Wenn es aber um alltägliche Politik geht, dann sind allzu prinzipientreue Politiker von drei Blindheiten geschlagen. Erstens: Der Blindheit gegenüber Fakten. Die Welt ändert sich stetig. Politiker müssen die Fakten dabei immer wieder neu bewerten und ihre politischen Antworten der Wirklichkeit anpassen. Übertriebene Prinzipienfestigkeit stünde ihnen dabei im Wege.

Nehmen wir als Beispiel die FDP. Diese Partei hatte vor der letzten Bundestagswahl den Bürgern Steuerermäßigungen versprochen. Nach der Wahl hat sie sich von dieser Überzeugung nicht abbringen lassen, obgleich sich die Weltwirtschaft mitten in einer Rezession befand und die Konsolidierung der Staatsfinanzen für die meisten Bürger in den Vordergrund gerückt war. In geradezu tragischer Weise hat eine Partei hier die von den Wählern eingeforderte Prinzipientreue gezeigt – und ist von den gleichen Wählern dafür abgestraft worden.

Die zweite Blindheit prinzipientreuer Politiker ist die Blindheit gegenüber den Interessen anderer. Politik besteht darin, einen Interessenausgleich zu schaffen. Dabei muss der Politiker akzeptieren, dass Menschen unterschiedliche berechtigte Interessen haben. Sicherlich muss er Meinungen nicht teilen, die seiner eigenen Auffassung widersprechen. Aber er muss anerkennen: Andere Werte und andere Prinzipien können Menschen dazu bringen, zu anderen Lösungen zu kommen.

Ein Ausgleich zwischen diesen Auffassungen muss in einem Kompromiss enden. Wird das nicht akzeptiert, kann Prinzipientreue katastrophale Folgen haben. Die Tea-Party-Bewegung in den Vereinigten Staaten ist bereit, das eigene Land aus prinzipientreuer Kompromisslosigkeit in die Grütze zu reiten.

Die dritte Blindheit ist die Blindheit gegenüber dem möglichen Widerspruch zwischen den eigenen Überzeugungen. Es kann nämlich durchaus sein, dass ein Politiker zwei Überzeugungen hegt, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen. Zum Beispiel: Einerseits das Prinzip, den Euro stabil zu halten, weil eine gemeinsame Währung für die deutsche Wirtschaft von gewaltigem Vorteil ist. Andererseits die Überzeugung, dass solide wirtschaftende Staaten nicht für die Schulden von verschwendungssüchtigen Ländern haften dürfen. Wer auf Prinzipientreue beharrte, wäre paralysiert.

Der Mensch gehört zu den anpassungsfähigsten Lebewesen der Welt. Nur noch Bakterien und Einzeller schaffen es, unter so unterschiedlichen Bedingungen zu leben wie der Mensch, sei es in der Kälte Grönlands, sei es in der Hitze Ostafrikas oder den Tropenwäldern Borneos. Mit Prinzipienreiterei hätte die Evolution dies nicht erreichen können. Kluge Politik geht ähnlich vor.


Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und FU Berlin. Unter anderem war Feuilletonredakteur der FAZ und schrieb Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de
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