Wider die Anonymität politischer Debatten im Netz

Von Markus Reiter |
"Das Internet ist der neue Ort für den politischen Diskurs." Dieser Satz findet sich im so genannten "Internet-Manifest". 15 bekannte Blogger haben es vor zwei Jahren veröffentlicht. Sie beschreiben darin die in ihren Augen wunderbaren Auswirkungen des Netzes auf die gesellschaftliche Demokratisierung.
Solche Hoffnung muss sich an der Wirklichkeit messen lassen. Nehmen wir als Beispiel einen ganz normalen Artikel im Web-Nachrichtenangebot einer großen Tageszeitung. Es geht um den FDP-Außenminister Guido Westerwelle. Der Artikel wurde mehrere Dutzend Male kommentiert.

Ein typischer Kommentar liest sich ungefähr so: (Zitat) "dieser ganze verein muß verboten werden und nicht erhalten, alles was nach korruption riecht muß mit knast bestraft werden, trotzdem einen schönen sonntag noch …" (Zitatende). Geschrieben hat diesen Satz ein User namens "Sailor". Andere User nennen sich "Hotzenplotz", "Wackeldackel" oder "Argusauge".

Inhaltlich mehr zu sagen haben sie nicht. So gut wie alle Nutzer äußern sich im Schutze der Anonymität. Dabei waren die Kommentare zu Westerwelle noch vergleichsweise zivilisiert, von einigen Seitenhieben auf seine Homosexualität abgesehen. Geht es um Migration, Kriminalität und Islam, kennen die User keine Hemmungen mehr. Bei den großen Nachrichtenportalen heißt es dann bei nahezu jedem zweiten Beitrag "Kommentar gelöscht. Bitte mäßigen Sie Ihre Ausdrucksweise!"

Ein Beispiel: Der Vorschlag, mehr Migranten in den öffentlichen Dienst zu übernehmen, wurde auf einer großen Nachrichtenwebsite von einem User mit der Bemerkung gekontert, er wolle keine "Eselstreiber" auf den Ämtern. Ein anderer User bemerkte, er werde sich für jeden erschossenen Ausländer eine Kerbe in sein Gewehr ritzen. Keiner der Kommentatoren trat mit seinem echten Namen für seine Meinung ein.

Ganz offenbar verleitet die Anonymität dazu, die hässlichen Seiten der menschlichen Psyche zum Vorschein zu bringen. Es wird am liebsten krakeelt, gehetzt, gemosert. Das liegt daran, dass es bei einer anonymen Debatte keine soziale Kontrolle gibt. So wie Fußball-Hooligans ihre Gewalttaten am liebsten aus der Masse heraus vollführen, so üben die Hooligans des Netzes ihre verbale Gewalt aus dem Schutz der Anonymität heraus aus.

Internetexperten haben einen Namen für Kommunikationsstörer der Netzdebatte. Sie nennen sie Trolle, ganz so wie jene Schaden anrichtenden Unholde in der skandinavischen Mythologie. Den Sturm aus Hohn, Verachtung und Hass, der über Menschen im Netz hereinbrechen kann, bezeichnen sie – Verzeihung! – als Shit-Storm.

Einige Betreiber haben daraus Konsequenzen gezogen. Die Website der "Badischen Zeitung" in Freiburg erlaubt seit einiger Zeit nur noch Kommentare mit Echtnamen. Wer bei Stern.de einen Beitrag kommentieren will, muss es über sein Facebook-Profil oder einen E-Mail-Anbieter tun.

Natürlich lassen sich diese Vorkehrungen ohne allzu große Mühe umgehen. Dennoch haben die Maßnahmen nach Auskunft der Betreiber die Qualität der Debatte enorm verbessert. Selbst kleine Hürden schrecken offenbar anonyme Krakeeler ab.

Das heißt: Wenn wir einen sinnvollen politischen Diskurs im Internet wollen, müssen die Teilnehmer öffentlich zu ihrer Meinung stehen. Stehen wir also vor einem Dilemma? Zum einen sollen wir mit unseren Daten sparsam umgehen und möglichst wenige Spuren im Netz hinterlassen. Zum anderen ist eine sinnvolle gesellschaftliche Debatte mit namenlosen Trollen nicht möglich.

Dieses Dilemma lässt sich auflösen: Wir sollten uns im Netz so verhalten wie im richtigen Leben. Und das heißt: So viel von uns preiszugeben, wie wir wollen, dass andere von uns wissen. Und uns in einer öffentlichen Diskussion so zu verhalten, dass wir unsere Äußerungen am nächsten Tag auch mit unseren Namen auf der Titelseite der Tageszeitung veröffentlichen könnten. Und wer möchte sich dort schon als Troll präsentieren?

Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und FU Berlin. Unter anderem war er Feuilletonredakteur der FAZ und schrieb Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de
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