Der Fall Sala

Indio-Aktivistin bringt Argentiniens Regierung in Bedrängnis

Demonstranten für die Freilassung von Milagro Sala in Buenos Aires, Argentinien.
Demonstranten für die Freilassung von Milagro Sala in Buenos Aires, Argentinien. © picture alliance / dpa / David Fernandez
Von Anne Herrberg · 13.06.2017
Milagro Sala sitzt seit anderthalb Jahren in Untersuchungshaft. Der 52-jährigen indigenen Aktivistin werden Betrug, Erpressung und Gewalt vorgeworfen. Doch es gibt keine umfassende Untersuchung, keinen Prozess, kein Urteil.
Ein kühler Herbstabend, Ende Mai, in Buenos Aires. Tausende Kerzen flackern in der Dämmerung, Trommeln geben den Rhythmus vor, auf Bannern prangt das Bild einer Frau: indigene Gesichtszüge, traditionelle Kopfbedeckung, entschlossener Blick.
Freiheit für Milagro Sala schallt es aus einem Megaphon. An die 15.000 Menschen begleiten den Protestmarsch, unterstützen diese Frau aus der nordargentinischen Provinz Jujuy, die landesweit bekannt wurde als führender Kopf der sozialen Organisation Túpac Amaru. Sie baute an die 8000 Sozialwohnungen, dazu Schulen, Krankenhäuser, Sportanlagen, sie schuf Arbeitsplätze, protestierte mit zehntausenden Mitgliedern für soziale Rechte. 2013 wurde Milagro zur Abgeordneten gewählt. Im Januar 2016 wurde sie verhaftet, während eines Protestes gegen die damals gerade angetretene Provinzregierung unter Gouverneur Gerardo Morales – seitdem sitzt sie in Untersuchungshaft.
"Ich bin hier, um Freiheit für Milagro Sala zu fordern, sie sitzt seit über einem Jahr im Gefängnis, das ist eine absolute Ungerechtigkeit. Dafür gibt es keinen Grund. Das zeigt, wie soziale Aktivisten derzeit verfolgt werden."
"Sie ist eine politische Gefangene! Warum: Weil sie die den Armen in der Provinz Jujuy eine Stimme und Arbeit gegeben hat, jetzt wird ihr Werk zerstört. Sie ist eine wahrhaftige politische Gefangene".

Seit Januar 2016 willkürlich in Haft

Auch die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte, Amnesty International, Mitglieder des EU-Parlaments oder die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen fordern die Freilassung der Aktivistin. Ihre Haft sei willkürlich, heißt es übereinstimmend. Längst ist der Fall Milagro Sala zum Politikum geworden – und das bringt auch den argentinischen Präsidenten Mauricio Macri in Bedrängnis. Als dieser in Davos über Menschenrechte und Toleranz sprechen wollte, hielten ihm Journalisten den Fall Sala vor, Kanadas Premier Justin Trudeau sprach ihn beim Staatsbesuch darauf an und in Spanien gab es eine offizielle Anfrage der Linkspartei Podemos.
"Der Fall Milagro Sala ist, wie ich bereits gesagt habe, ein Thema der Justiz von Jujuy. Dort werden eine Vielzahl von Prozessen und Klagen gegen sie bearbeitet. Das Justizsystem in Argentinien funktioniert und es ist unabhängig."
Eine große Menschenmenge hat sich zu einer Demonstration zusammen gefunden. Sie halten Transparente hoch, um gegen die mangelhafte Justiz in Argentinien zu protestieren.
Bürger in Buenos Aires protestieren gegen die mangelhafte Justiz.© Deutschlandradio / Victoria Eglau
Damit stützt Mauricio Macri auch einen seiner wichtigsten Verbündeten: Gerardo Morales, der Gouverneur von Jujuy, ist die Verbindung zum armen Norden des Landes, der bisher fest in der Hand der Opposition war. Für Morales sind Milagro Sala und ihre Organisation Túpac Amaru keine Kämpfer für die Armen – sondern eine Verbrecherbande.
"Es wundert mich, dass Leute über eine Situation urteilen, die sie gar nicht kennen: die die Gewalt und die faschistische Mafialogik der Organisation Túpac Amaru und ihrer Anführerin Milagro Sala nie erlebt haben. Und die zu vergessen scheinen, dass sie Millionen von Steuergeldern veruntreut haben. Millionen, die einfach verschwunden sind, bevor ich dann die Dinge in die Hand nahm."

Heldin oder Mafiaboss?

Politische Gefangene oder eine gefährliche Kriminelle? Wer ist diese Frau, die so viele Menschen für und gegen sich aufbringt? Ich beschloss, selbst nach Jujuy zu fahren, rund 1600 Kilometer nordwestlich von Buenos Aires.
"Willkommen im Cantri" steht in selbst gemalten Lettern auf einem Holzschild. Wir sind am Stadtrand von San Salvador, der Hauptstadt von Jujuy am hügeligen Ostrand der Anden. "El Cantri" ist der Name des größten Siedlungsprojektes der Túpac Amaru: Der Blick schweift über etwa 4000 Reihenhäuser, dazwischen Kulturzentren, eine große, moderne Schule, Sportplätze, ein Freibad mit Rutschen und Wasserspielen. Eine kleine Stadt. Der Name "El Cantri", in Lautschrift geschrieben, ist dabei eine ironische Anspielung auf das englische Worte "Country", wie in Argentinien die abgeschlossenen Privatwohnviertel der Reichen genannt werden, erklärt mir Patricia Cabana, die alle Pachila nennen. Sie ist als Waise aufgewachsen, hat sich durchgeboxt, dann lernte sie Milagro Sala kennen – wurde einer ihrer engsten Vertrauten.
"Jujuy ist eine vergessene Provinz, das war schon immer so. Ihr gehört eigentlich schon zu Bolivien, heißt es immer. Und das ist abschätzig gemeint. Hier gibt es wenige reiche Familien, die sich die Macht seit Jahren aufteilen. Wer nicht in einem goldenen Nest geboren wird, der stirbt auch arm, so ist das eben, dachten wir. Aber Milagro hat uns die Augen geöffnet. Ganze Stadtviertel haben wir gebaut, voll ausgestattete Krankenhäuser, Wasser und Stromleitungen in Gegenden, die seit Jahrzehnten vernachlässigt worden sind. Milagro hat uns gezeigt, dass wir uns weiterentwickeln können. Das wird uns niemand mehr nehmen."

Erfolgreich und deshalb mächtig

Die Túpac Amaru wurde während der neoliberalen 1990er Jahren groß. Marktöffnung, sparen, weniger Staat hieß damals das Credo – Tausende verloren ihre Jobs. Soziale Bewegungen wurden zu Auffangnetzen. Mit Straßensperren und Protestmärschen forderten Zehntausende Hilfe zum Lebensunterhalt. Die Regierung der Kirchners, die nach der Krise ab 2003 an die Macht kam, versuchte diese neuen Akteure zu integrieren. Gestützt auf staatliche Programme begann die Tupac Amaru Sozialwohnungen zu bauen und wurde so zum drittwichtigsten Arbeitgeber der Provinz, erklärt der Soziologe Adrian Berardi:
"Die Túpac wirtschaftete sehr effizient. Sie investierten einen Teil der Gelder in den Aufbau von Kooperativen, um Baumaterial und Arbeitskleidung herzustellen. Damit schufen sie mehr Arbeitsplätze, bauten billiger, schneller und mehr als andere. Dadurch wuchs ihr Einfluss. Die Túpac hatte eine Vetomacht, wenn ihr eine Maßnahme nicht gefiel, konnte sie die Provinz lahmlegen."

Präsident Macri dreht Túpac Amarul den Geldhahn zu

Die Túpac Amaru sei eine "Mafia", die einen "Parallelstaat" geschaffen habe – so die Kritik von Gerardo Morales. 2015 wird er zum Gouverneur von Jujuy gewählt – gemeinsam mit der neuen Bundesregierung von Präsident Macri dreht er allen sozialen Organisationen erst einmal den Geldhahn zu. Die Túpac Amaru und andere Gruppen schlagen ein Protestcamp auf dem zentralen Platz von San Salvador auf – und fordern Dialog. Kurze Zeit später wird Milagro Sala verhaftet. Wegen Anstiftung zum Tumult. Ein vorgeschobenes Argument, sagt eine der Anwältinnen der Túpac - Paula Alvarez Carreras:
"Wir forderten sofort ihre Freilassung, das wurde auch gewährt, doch am selben Tag wurde sie der Veruntreuung von Geldern beschuldigt, dann kam ein dritter Fall dazu, ein vierter, und so weiter. Es wurde einfach vorausgesetzt: Die Tupac ist eine kriminelle Vereinigung und Milagro der Kopf dahinter. Die Unschuldsvermutung galt nie. Es gibt jedoch bisher in keinem Fall einen Prozess oder ein Urteil."

Vorwurf: Veruntreuung von 40 Millionen Euro

700 Millionen Pesos, umgerechnet sind das über 40 Millionen Euro, sollen veruntreut worden sein. Häuser wurden durchsucht, Fahrzeuge festgesetzt, Konten gesperrt. In den Mainstreammedien scheint Milagro Sala längst vorverurteilt, nachrecherchiert wird kaum. Dabei gibt es seit einem Jahr keinerlei Fortschritte bei den Ermittlungen. Es gehe auch gar nicht um Wahrheitssuche, glaubt die Túpac-Anwältin Paula Carreras:
"Als Gerardo Morales sein Gouverneursamt antritt, leitet er sofort eine Serie von Reformen im Justizsystem ein, bei denen Schlüsselpositionen mit Parteifreunden oder Verwandten besetzt werden. So stockt er zum Beispiel die Mitglieder des Obersten Gerichtshofes auf, zwei der vier neuen haben nicht einmal Jura studiert. Es gibt sehr enge Verbindungen zwischen der Provinzregierung und der Justiz."
Gerardo Morales sagt dagegen: Zum ersten Mal sei die Justiz in Jujuy unabhängig. Doch warum darf Milagro Sala dann nicht in Freiheit abwarten, bis ein Verfahren aufgenommen und ein Urteil gesprochen wird? Sie würde die Ermittlungen behindern, heißt es. Jüngst hat sich das "Komitee der Opfer von Milagro Sala" gegründet, von acht Zeugen, die gegen die Aktivistin aussagen. Soledad Mendoza ist eine von ihnen.
"Ich lebe mit meinen Eltern und diese Senhora gab die Anordnung, in unserem Hof eine Essensausgabe einzurichten, wir wollten nicht, da begann für uns die Hölle. Sie erstachen meine zwei Hunde, hängten sie auf mit einem Schild auf dem stand: Wenn du weiter störst, wird dir das auch passieren."

Gefängnisbesuch bei Milagro Sala

Schwere Anschuldigungen. Was sagt die Frau dazu, um die es die ganze Zeit geht? Milagro Sala. Mittwoch ist Besuchstag im Gefängnis Alto Comedero. Handy, Kamera, Mikrofon, alles muss abgegeben werden, bevor sich das schwere Eisentor aufschiebt. Hinter den Mauern eine Ansammlung einzelner Pavillons mit schon etwas angefressenen Fassaden. Milagro Sala sitzt in der Einheit 3, Frauengefängnis, zwei Gefangene pro Zelle. "Hallo Companhera, danke fürs Kommen", sagt eine schmale Frau mit streng geflochtenem Zopf und gesteppter Bluse. Sie wiegt mindestens 10 Kilogramm weniger als auf früheren Fotos und wirkt ruhelos.
Dann erzählt sie ihre Geschichte. Dass sie als Adoptivkind, die einzige Indigena, in einer Mittelstandsfamilie aufwuchs. Wie sie sich dann aufmachte, ihre wahren Wurzeln zu suchen, auf der Straße lebte, Diskriminierung und Elend kennenlernte. Wie sie bereits mit 14 Jahren anfing, sich politisch zu engagieren. Ihre Vorbilder seien Evita und der bolivianische Präsident Evo Morales. Sie fixiert ihr gegenüber, hat diesen Duktus drauf, beim Sprechen, bestimmend und ansteckend zugleich. Da scheint sie wieder durch, die Anführerin, die Massen mobilisieren kann. Und doch wirkt sie zerbrechlicher als früher, wie sie da so sitzt, isoliert von den Anderen. Als ich Milagro zu einem späteren Zeitpunkt noch mal ans Telefon bekomme, flüstert sie. Ein Wächter sitzt die ganze Zeit neben ihr.
2010: Milagro Sala von Tupac Amaru auf dem Argentine National Indigenous Marsch 
Milagro Sala von Tupac Amaru auf dem Argentine National Indigenous Marsch (2010)© dpa / picture alliance / ANDRES PEREZ MORENO/dpa

"Wer für uns ist, wird bedroht [..], oder kommt ins Gefängnis."

"Hallo Milagro, wie geht es dir?"
"Mal so, mal so, halte durch gegen Einschüchterungen und Drohungen, was soll ich machen."
"Milagro, warum sitzt du im Gefängnis?"
"Weil ich die einzige oppositionelle Stimme gegen den Gouverneur Morales bin. Eine Frau, eine Indigena dazu, die gewagt hat, an den alteingesessenen Verhältnissen zu rütteln."
"Es gibt schwere Anschuldigungen gegen dich, Milagro – du sollst Millionen veruntreut, Gewalt ausgeübt haben."
"Leider hören sie nicht auf, Dinge zu erfinden: Und sie finden immer welche, die bereits sind, gegen uns auszusagen. Das hat mit dem Druck der Regierung zu tun und mit der Kampagne gegen uns. Die Menschen haben Angst. Wer für uns ist, wird bedroht, bekommt jegliche Gelder gestrichen, verliert seinen Job, oder kommt ins Gefängnis. Das betrifft nicht nur uns, sondern alle soziale Organisationen, die protestieren."

Schwache demokratische Institutionen

Je mehr Zeit ich in Jujuy verbringe, um so vielschichtiger wird die Geschichte dieser Frau, deren Fall vielen auch dazu dient, politische Grabenkämpfe auszufechten. Sie hat viel bewegt in der Provinz, Beeindruckendes geschaffen, aber gleichzeitig wohl auch die von ihr kritisierten Eigenschaften eines Caudillos, eines autoritären Anführers, selbst angenommen. Der Fall zeigt vor allem, wie schwach die demokratischen Institutionen in Jujuy sind, wie tief die Gräben der sozialen Ungleichheit.
Die Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen über willkürliche Inhaftierungen besuchte Jujuy Mitte Mai – man habe dort mit allen Seiten sprechen können, Zugang zu allen Unterlagen erhalten, erklärte Vertreter Setondji Adjovi auf einer Pressekonferenz in Buenos Aires.
"Unsere Meinung zu Milagro Sala bleibt bestehen: Ihre Haft ist willkürlich. Wenn unseren Empfehlungen nicht nachgekommen wird, wird das im Jahresbericht des UN-Menschenrechtsrates auftauchen."
Die Einhaltung der in der Verfassung garantierten Rechte sei keine Entscheidung einer Provinz – sondern liege in der Verantwortung des argentinischen Staates.
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