Der Corviale in Rom

Ein Hochhausmonster im Verfall

Außenansicht des Hochhauses Corviale in Rom
Neun Stockwerke hat der Corviale, im vierten war einst eine Art Boulevard als Treffpunkt und mit Läden geplant. © Jan-Christoph Kitzler
Von Jan-Christoph Kitzler · 10.12.2018
Der Corviale in Rom ist das längste Hochhaus Europas. In den 70ern gebaut, bröckelt heute der Stahlbeton. 5000 Bewohner leben hier, viele illegal – unter teils kaum erträglichen Bedingungen. Doch das soll sich jetzt ändern.
Als der Architekt Le Corbusier nach dem zweiten Weltkrieg seine "Wohnmaschinen", oder "Unité d’Habitation", plante, konnte sich wohl noch niemand so ein Monster vorstellen: der Corviale oder Serpentone, wie ihn die Römer nennen, wurde seit Mitte der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts genau in dieser Tradition gebaut. Einen Kilometer lang, das längste Hochhaus Europas.
Schon von außen sieht man den Verfall, die jahrzehntelange Vernachlässigung. Innen sind die Fahrstühle, die Klingelanlagen kaputt, überall Graffiti, bröckelnder Stahlbeton. Angelo Scamponi hat im Erdgeschoss ein kleines Büro, sie haben einen Verein gegründet, der sich um die Anliegen der rund 5000 Bewohner kümmert. 76 ist er, seit 1985 wohnt er hier, inzwischen nur noch mit seiner Frau, die Kinder sind längst weg.
"Das ist ein Sozialwohnungsbau aus den 70er-Jahren. Die Architektur funktioniert nicht, sie hält nicht stand, sie kann nicht standhalten. In diesem Gebäude gibt es 1203 Wohnungen, früher bestand eine Durchschnittsfamilie aus vier Personen, das ist ein Dorf, eine Stadt eine Provinz. Es gibt Provinzen, wo weniger Menschen leben als in unserem Gebäude. Das ist die Realität. Die Architektur konnte nicht funktionieren, und so ist ja auch nichts mehr in dieser Art gebaut worden."
Angelo Scamponi in seinem Büro im Erdgeschoss des Corviale
Angelo Scamponi wohnt seit 1985 im Corviale. Er hat einen Verein gegründet, der sich um die Anliegen der rund 5000 Bewohner kümmert.© Jan-Christoph Kitzler
Dabei hatte Mario Fiorentino, der Architekt, es gut gemeint: eine Anlage mitten im Grünen. Neun Stockwerke hat der Corviale. Im vierten Stock war eine Art Boulevard geplant, mit Läden, wo Handwerker arbeiten sollten und die Menschen sich treffen konnten. Aber dazu kam es nie. Noch während der Bauarbeiten übernahmen kriminelle Banden die Kontrolle. Aus dem vierten Stock wurden improvisierte Wohnungen, Strom-, und Wasserleitungen wurden angezapft, erzählt Scamponi.
"Hier hat es auch Betrug gegeben. Sie haben Wohnungen zum Verkauf angeboten, aber sie waren gar nicht die Besitzer. Die Interessenten dachten, sie könnten mit einem Abschlag ein Recht erkaufen, sie dachten, sie könnten so die Wohnung kaufen. Doch die gehören ja der Region und werden von ihr verwaltet."
Doch die Region Latium hat sich nicht richtig gekümmert, eine in Teilen korrupte Verwaltung hat ihr Übriges getan. Und was als Großprojekt des sozialen Wohnungsbaus galt, darf heute als gescheitert gelten. Über die Hälfte der Wohnungen sind besetzt, illegal bewohnt. Kriminelle haben sich hier eingerichtet, Arme, Ausländer, viele Alte trauen sich kaum noch aus dem Haus.

Papst Franziskus besuchte den Corviale

Im April war Papst Franziskus hier. Der interessiert sich für die Ränder der Gesellschaft – da durfte der Corviale nicht fehlen.
Papst Franziskus umgeben von Menschen bei seinem Besuch im April 2018 des Corviale
Papst Franziskus bei seinem Besuch des Corviale© imago/epd
Für das Tagesgeschäft ist Don Roberto zuständig. Seit drei Jahren ist er hier der Pfarrer, hat eine schöne, moderne Kirche, gleich neben dem Hochhausungetüm. Zu den Sonntagsmessen kommen vielleicht 250 Gläubige. Auch deshalb geht er raus, in die Wohnmaschine: Den traditionellen Kreuzweg beginnen sie im neunten Stock. Immer wieder geht er in die Wohnungen und wird gebeten, die Bewohner zu segnen.
"Ich habe so Situationen des Verfalls gesehen, die mir das Herz brachen und doch wusste ich nicht, wie ich helfen konnte. Illegale, die in einem Raum, ein Viertel von diesem hier, leben. In einer Ecke haben sie das Klo improvisiert. Unbeschreibliche Situationen, die es 2018 in Rom nicht geben dürfte. Sie wollten, dass ich reinkomme, um alles zu segnen. Trotz ihres Desasters, trotz ihres Schmutzes, trotz – ich würde sogar sagen – trotz ihres mentalen Desasters."
Die Leute hier sind wütend, sagt Don Roberto. Sie fühlen sich allein gelassen. Und: Auch Jesus hat erstmal Kranke geheilt, Menschen zu essen gegeben – und dann gepredigt.
"Der 'Serpentone' ist ein architektonisches Projekt, das scheitern musste. Das Konzept ist unerträglich, so wie es konzipiert war. Und heute, nach 30, 40 Jahren, kommen alle Defekte und alle damit verbundenen Dramen an die Oberfläche. Ein Gebäude aus Zement, das gewartet, gepflegt werden müsste – und das passiert seit Jahren nicht. Eine Art Panzerkreuzer im offenen Verfall. Unerträglich, unerträglich. Meiner Meinung nach sind die Bewohner Helden."
Porträt von Stefano Lucidi
Stefano Lucidi, als Assessore in der Stadtteilverwaltung ist er seit 2016 zuständig für den Corviale.© Jan-Christoph Kitzler
Stefano Lucidi hat sein Büro in einem Park. Ein paar Kilometer entfernt. Als Assessore in der Stadtteilverwaltung ist er seit 2016 zuständig für den Corviale. Auch er sieht natürlich die großen Probleme. Inhuman sei das Projekt vor allem, weil es keine soziale Mischung gibt.
"Das ist eine Art Ghettobildung, die Menschen mit den größten Problemen werden zusammengepfercht. Das ist schädlich, denn es gibt keine soziale Mischung. Das ist eine Umgebung, in der es so aussieht, als gäbe es keine Aufstiegsmöglichkeiten, denn man ist umgeben von lauter Menschen in großen wirtschaftlichen, sozialen Schwierigkeiten. Das ist eine Form von Ausgrenzung."

Im vierten Stock sollen nun neue, reguläre Wohnungen entstehen

Doch wie will man das ändern? 11.000 Familien warten in Rom auf eine Sozialwohnung – und rund 9000 dieser Wohnungen sind illegal besetzt, auch im Corviale. Aber so einfach an die Luft setzen könne man die Familien nach 20, 30 Jahren eben auch nicht, viele hätten große Probleme. Trotzdem: Sie wollen das jetzt angehen, beginnend beim berühmten 4. Stockwerk. Dort sollen jetzt neue, reguläre Wohnungen entstehen.
"Wenn wir das nicht schaffen, wird das ein schwerer Imageschaden und der Sieg des Verbrechens. Dann hat die Verwaltung zum x-ten Mal das Ruder nicht herumreißen können. Aber wenn es gelingt, ist das ein wichtiges Signal. Und ein Modell dafür, wie wir öffentliche Gebäude wieder in den Griff bekommen."
Porträt von Architektin Guendalina Salimei am Corviale
Guendolina Salimei hat den Architektenwettbewerb für den Umbau des Corviale gewonnen.© TStudio, Roma
Illustration: zwei junge Menschen in einem begrünten Hof im Corviale
So könnte es im Corviale zukünftig vielleicht einmal aussehen.© TStudio, Roma
Guendolina Salimei, eine energische Frau, hat den Architektenwettbewerb gewonnen. Wo andere den Corviale am liebsten aus der Welt schaffen würden, sieht sie Chancen.
"Diese Anlage hat wie andere auch großes Potenzial, mit neuen Ideen wiederbelebt zu werden. Ich bin gegen die, die sagen, das müsse man abreißen. Denn mit intelligenten Eingriffen kann man so eine Anlage neu konzipieren und wieder der Allgemeinheit, der Stadt zur Verfügung stellen."
Doch das ist noch ein langer Weg. Die Region müsste viel Geld in die Hand nehmen, das sie nicht hat. Die Verwaltung müsste durchgreifen und trotzdem für jede einzelne der Familien Lösungen finden. Und das schnell – denn viele der Bewohner des Corviale haben nach Jahrzehnten in der Wohnmaschine längst jede Hoffnung verloren. Trotzdem: In ein paar Wochen sollen die Bauarbeiten beginnen.
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