Der Aufbruch

Rezensiert von Udo Scheer |
Das Sachbuch bietet einen ersten großen Überblick über das Aufbruchsjahr 1989/90. Ehrhart Neubert, DDR-Oppositioneller und einstiger Mitbegründer der Partei des "Demokratischen Aufbruchs", schildert darin mit dem Wissen eines Insiders emotional eindrücklich die Vorgeschichte, den Höhepunkt und die politischen Folgen des historischen Ereignisses der Wende.
Gleich am Anfang stolpert man über eine Formulierung von Ehrhart Neubert:

"Dieses Buch will zeigen, dass Menschen im und durch Sprechen diese demokratische Revolution veranstalteten."

Verblüfft fragt man: Soll die Herbstrevolution '89, dieser Glücksfall einer Revolution mit friedlichem Ausgang, im Rückblick auf eine Sprechveranstaltung, gar auf einen Debattierclub reduziert werden? Das wäre am verzweifelten Mut der Demonstranten der ersten Wochen, an der Wucht der späteren Demonstrationen und Streiks vorbeigeschrieben. Zum Glück nimmt der Autor seine gewagte These später selbst nur insoweit ernst, als er nacherlebbar macht, wie das DDR-Volk im Aufstehen seine Sprache wiederfand. Und zum Glück versteigt er sich nur noch einmal in eine ähnlich seltsame Idee. Dann vertritt er die Auffassung, im Januar ´90 hätte es eine eigenständige zweite Revolution gegeben - für schnelle Wiedervereinigung, gegen die Restauration der SED.

Davon abgesehen entschädigt Neubert in "Unsere Revolution" auf 440 Textseiten mit einem Parforceritt durch die DDR- Revolutionsgeschichte bis zur deutschen Einheit am 3. Oktober ´90. Gut lesbar, in den dramatischen Ereignissen regelrecht packend, lässt er Bilder Revue passieren, die die Dynamik, die politischen Entscheidungen und Hintergründe wieder lebendig machen. Als Insider, so als Mitbegründer des "Demokratischen Aufbruchs", aber auch mit historischem Draufblick, zeigt Neubert, wie offen der Prozess mehrfach war, wie leicht die Entwicklung hätte kippen können.

Bis weit in den Herbst ´89 bestärkten bundesdeutsche Politiker den vorherrschenden Konsens ähnlich wie Erhard Eppler, SPD, der auf dem Leipziger Kirchentag sagte: "für die Statik des europäischen Hauses" sei die Existenz zweier deutscher Staaten unerlässlich.
Rückblickend erinnert Ehrhart Neubert:

" Dem wurde widersprochen, so auch von Edelbert Richter: "Ich verstehe nicht ganz, wie man die Teilung überwinden will, wenn man diese Wand, die die Teilung geradezu symbolisiert und verkörpert, wenn man sie stehen lässt, und zwar möglichst lange." Vier Monate später musste das europäische Haus ohne die Statik der Mauer auskommen. Und – es war sicherer geworden. "

Dennoch konnte die übergroße Mehrheit der DDR-Bürgerrechtler sich - selbst noch im Frühjahr 1990 - nur einen reformierten Sozialismus und Zweistaatlichkeit vorstellen. Die Quittung war ihre vernichtende Niederlage mit 2,9 Prozent bei den ersten freien Wahlen am 18. März. Den überaus uneinheitlichen basisdemokratischen Akteuren fehlte ein charismatischer Führer und ihnen fehlte ein politisches Programm, das den Mehrheitsinteressen entsprach. In "Unsere Revolution" sind die Ursachen in seltener Klarheit herausgearbeitet.

Neubert beginnt die Geschichte des gesellschaftlichen Umbruchs ´89 mit dessen Vorgeschichte. Und er macht nacherlebbar, wie der Frust über die aufgedeckten Wahlfälschungen im Mai ´89 sich in einem einmaligen Ausreisestrom entlud, erst über die ungarische Grenze, dann über die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau.

"In der Nacht des 1. Oktober rollen die Züge aus Prag in die Bundesrepublik. Die Bahnstrecke ist abgesperrt... Flugblätter werden verteilt. Darauf ist zu lesen: "Plauen, Oberer Bahnhof, Sonntag, 1. Oktober 89. Ich sah durchfahrende Züge voller junger Menschen, jubelnd. Morgen können es unsere Kinder sein, wenn wir weiter Angst haben."

Tatsächlich hätten gerade die Ausreiser es verdient, in ihrer Bedeutung für die Herbstereignisse noch klarer dargestellt zu werden. Denn von der Opposition vielfach als Verräter an der Sache und als Wohlstandsflüchtlinge verachtet, war es genau diese massenhafte Absetzbewegung, die am 2. Oktober in Leipzig, Dresden und Plauen zur Initialzündung für die kommenden Demonstrationen wurde. "Wir wollen raus!" stand neben "Wir bleiben hier!" Mit "Wir sind das Volk!" stellte die Menge auf der Straße erstmals eindrucksvoll die Machtfrage. Angesichts der überwältigenden Demonstration der 70.000 am 9. Oktober in Leipzig versagten dann Polizeikessel und Wasserwerfer.

Dabei saß Egon Krenz´ Drohung einer chinesischen Lösung vom 3. Oktober weiterhin tief. Die Antwort der von Fürbitt-Gottesdiensten im ganzen Land ausgehenden Demonstrationen waren weiße Kerzen und der Ruf: "Keine Gewalt!"

Emotional eindrücklich gelingen dem Autor die Schilderungen des Aufbruchs und des Mauerfalls, darunter auch jene Pressekonferenz an diesem wahrhaft denkwürdig gewordenen 9. November mit Günter Schabowskis Irritation bezüglich der neuen Reiseregelung: "Sofort!? Unverzüglich!?" Neubert schildert die spontane Solidarität der Westdeutschen, im weiteren Verlauf den chancenlosen Versuch erster frei gewählter DDR-Politiker, soziale Werte in ein geeintes Deutschland einzubringen, oder auch den Kampf um die Stasi-Akten, - ganz gegen den Willen der Bundesregierung.

Die politischen Probleme mit ehemaligen MfS-Mitarbeitern waren längst nicht gelöst... Der sowjetische Geheimdienst hatte Personal und Daten übernommen und konnte seine Spionage gegen die Bundesrepublik ausbauen, ehemalige MfS-Offiziere organisierten Netzwerke und Seilschaften... Wie ein Clash of Cultures prallten die Interessen der bundesdeutschen Exekutive und der DDR-Bevölkerung aufeinander... Damals wurde die bundesdeutsche Position vor allem von Wolfgang Schäuble vertreten... Die Akten hätte er gern vernichtet gesehen. Mit geöffneten Akten, so Schäuble, könne "Denunziantentum und Verletzung von Persönlichkeitsrechten betrieben werden".

Die enormen Anstrengungen, einerseits zur Restauration der SED-Macht, andererseits zur Wiedervereinigung, werden im Buch anhand neuer Erkenntnisse sichtbar. Das erfolglose Ringen der Krenz-, später Modrow-Regierung um sowjetischen Beistand ist ebenso aufschlussreich geschildert, wie Helmut Kohls diplomatisches Geschick in einem offenbar tatsächlich kleinen Zeitfenster gegenüber den vier Besatzungsmächten. Man ahnt, ohne den Druck der unverminderten Abwanderung Ostdeutscher und ihre Brisanz für die Stabilität in beiden Deutschländern wäre die Geschichte womöglich etwas anders verlaufen.

In der gebotenen Beschränkung gelingt es dem Autor leider nicht, einige wichtige Entwicklungen so zu vertiefen, wie sie es verdienten. Darunter die Gründung der sozialdemokratischen Partei Ost in Schwante, der Verbleib der sich etablierenden SED-Funktionsträger nach dem Ende der DDR, oder auch die folgenschwere Rolle der Treuhand- und Marktpolitik in den neuen Ländern.
Dennoch bietet das Buch einen ersten großen Überblick über das Aufbruchsjahr 1989/90, wie ihn selbst Beteiligte damals unmöglich gewinnen konnten. Man darf sicher sein, weitere Stimmen werden sich zu Wort melden, vertiefende, in manchen Punkten auch kontroverse. Die Forschung zur deutschen Wiedervereinigung ist im Fluss. Ehrhart Neubert hat dazu ein erstes grundlegendes Werk vorgelegt.

Ehrhart Neubert: Unsere Revolution. - Die Geschichte der Jahre 1989/90, Piper Verlag, München/2008
Ehrhart Neubert: Unsere Revolution - Die Geschichte der Jahre 1989/90
Ehrhart Neubert: Unsere Revolution - Die Geschichte der Jahre 1989/90© Piper Verlag