Der andere Blick auf die Geschichte

Ein Essay von Jörg Friedrich · 22.06.2008
1943 traf die ostindische Provinz Bengalen eine Hungerkatastrophe. Im Weltkrieg war Indien Kronkolonie im britischen Empire, das seine asiatischen Großräume gegen Japan verteidigte. Knapp fünf Millionen Quadratkilometer Zwangsherrschaft plus Australien und Neuseeland. Premier Winston Churchill gab persönliche Anordnung, den zu zehntausenden sterbenden Zivilisten die Nahrung zu entziehen. Einer vom Hungertod preisgegebnen Bevölkerung fehlt die Kraft zum Aufruhr. Die gesamte indische Unabhängigkeitspartei Ghandis und Nehrus war von Churchill vorbeugend eingelocht.
Die über Britisch-Birma nach Bengalen durchstoßenden Japaner glichen keineswegs Befreiern, aber auch nicht Unterdrückern. Unterdrückt war Indien nämlich schon seit 200 Jahren und es überlegte sich 1942/43, welche Seite mehr taktische Vorteile versprach. In seiner bedrängten Lage kam Churchill die Vernichtung durch Hunger wie gerufen. Heute eine Episode, die im europäisch-amerikanischen Geschichtshorizont kaum vorkommt; jedoch im indischen, im indonesischen, im chinesischen. Rund fünfmal soviel Menschen wie uns Westlern bietet der Weltkrieg ein ziemlich anderes Gesicht.

Die Seltsamkeiten der Anti-Hitler-Koalition auf seinem europäischen Schauplatz: die Vertreibungs- und Vergewaltigungsorgien von 1944/45, die Massenvernichtungsstrategien des Städtebombens, die anschließenden Entrechtungs-, Säuberungs- und Umerziehungskampagnen der Besatzungsmächte - sie erschienen aus der Sicht Kalkuttas, Singapurs und Ranguns mitnichten als spezielle Medizin gegen die Barbarei Nazideutschlands. In dieser Schule der Vergeltung zeige der Westen sich vielmehr wie er leibt und lebt. Was ließ seine Herkunft aus der Sklavenhalterei, dem eingefleischten weißen Rassismus, seinen Jahrhunderte langen Raub- und Unterwerfungs-, Ausrottungs- und Bekehrungszügen schon anderes erwarten? Den Geschlagenen wurde nur so mitgespielt, wie den Kolonialvölkern seit eh und je. Auch die röhrende Gerechtsamkeit des westlichen Kriegers ist man gewohnt, der die übrige Welt von Götzendienst und Menschenfresserei erlöst, um ihr netterweise Zivilisation und politische Manieren zu verpassen.

Soweit die Welt in der Optik der östlichen Halbkugel. Sie muss nicht notwendigerweise schärfer sehen, sie trägt nur eine andere Brille als unsereins. Unter den Historikern angelsächsischer Zunge wächst zusehends der Hang, sich abwechslungshalber einmal fremde Brillen aufzusetzen. Man wird nicht dümmer dadurch. Als geübte Weltmächte sind Briten und Amerikaner näher an den Auffassungen ihrer Ex-Kontrollzonen und auch an einem gelegentlichen Selbstcheck. Anders kann man gar nicht herrschen. Und so verliert der damalige Gerechtigkeitskrieg so langsam seinen rosigen Schein, wird schmutziger und dümmer: Nur die Deutschen sind ewig dankbar für die empfangenen Tritte. "Alles selber schuld!" In ihrer edlen Einfalt haben sie noch nicht realisiert, dass sie aus einem Brillengestell blicken. Sie kennen die Wahrheit, so oft sie auch wechselte. Das rührt gleichfalls aus unserem Erbteil, zuvorderst die herkömmliche Unterwürfigkeit. Was denn Wahrheit sei, lehrte uns seltener die Neugier, meistens die Obrigkeit: Sieger und Besatzer, Thron und Altar, Führer und Politbüro, neuerdings die Glaubenswächter des aktuellen Tugendregimes. Schreiben ist Vorschreiben: Die Freiheit des Andersdenkens bringt Gefolgsmann und Gefolgsfrau durcheinander. Der Pfiff der Zentralorgane hingegen orientiert, und Seit' an Seit' schreiten wird, die Reihen fest geschlossen, gegen die Infamien der Ketzer ein. Doch nicht alles ist schlecht an der Globalisierung. Wer unbemerkt etwa teilhaben möchte am Abenteuer der Ketzerei, den befreit der sprudelnde US-Buchmarkt schon ein wenig von der Geistesklimakatastrophe der Republik.