Deniz Ohde über "Streulicht"

Industriepark als Heimat

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Rauchende Schornsteine im Industriepark Frankfurt-Höchst, darüber pastellfarbene Wolken, Abendsonne, im Vordergrund ein unscharfer Zaun.
"Streulicht" spielt in einer Stadt, die von einem Industriepark geprägt ist. © imago images / Michael Schick
Moderation: Andrea Gerk · 16.10.2020
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Mit ihrem ersten Roman „Streulicht“ ist Deniz Ohde gleich auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis gelandet und hat dafür den Aspekte-Literaturpreis erhalten. Es handelt von Diskriminierung im deutschen Bildungssystem und verdrängtem Schmerz.
Gleich Deniz Ohdes erster Roman erregte die Aufmerksamkeit von Preisjurys: "Streulicht" war unter den sechs letzten Nominierten für den Deutschen Buchpreis. Dann wurde er mit dem Aspekte-Literaturpreis 2020 ausgezeichnet, mit dem das ZDF das beste deutschsprachige Prosadebüt ehrt.
"Streulicht" spielt in einer Stadt, die von einem Industriepark geprägt ist. Dort arbeitet der Vater der Erzählerin im Chemiewerk und beizt Aluminiumbleche. Die Mutter ist als junge Frau aus der Türkei gekommen. Sie versucht, zu Hause Ordnung zu schaffen, was aber nicht möglich ist, weil der Vater und der Großvater der Erzählerin so viel anhäufen. Deshalb darf beispielsweise auch niemand zu Besuch kommen.
In dieser Familie spielen Scham und Verletzungen, die den Figuren zugefügt wurden, eine große Rolle. Ein Stück weit könne man die Theorie hierauf beziehen, dass Menschen, die Gegenstände horten, damit eine Wunde, zudecken wollen, die sie nicht sehen wollen, und damit auch den Schmerz zudecken wollen, sagt Deniz Ohde.
"In dieser Familie, die ich da beschrieben habe, sind ja viele Verlusterfahrungen passiert: Die Großmutter ist früh gestorben und die Mutter der Erzählerin auch." Ihre Einschätzung des Verhaltens des Vaters und des Großvaters der Erzählerin sei, dass sie mit diesen Verlusterfahrungen nicht umgehen konnten. Dazu komme noch das Kriegstrauma des Großvaters. "Sie versuchen, durch das Horten eine Sicherheit herzustellen und etwas Unkontrolliertes unter Kontrolle zu bringen."

Erfahrung der Andersartigkeit nur von außen

Darüber hinaus ist "Streulicht" auch ein Roman über das deutsche Bildungssystem. Das Mädchen merkt erst in der Schule, dass sie anders ist – und zwar an vielen Kleinigkeiten wie dem Namen, der Kleidung. Andere Kinder schubsen sie, die Erwachsenen wiegeln ab, sie sei ja Deutsche.
Interessiert habe sie an dieser Figur, dass sie diese Diskriminierungserfahrungen, die Erfahrung, als anders wahrgenommen zu werden, nur von außen erlebe, so Ohde. "Sie selbst nimmt das gar nicht so wahr." Die Mutter, die aus der Türkei kommt, versuche, sie vor Diskriminierung zu schützen, indem sie ihr zum Beispiel die türkische Sprache nicht beibringt und ihr sagt: Du bist Deutsche, du bist ganz normal.
"Und das führt dazu, dass sie mit diesen Diskriminierungserfahrungen gar nicht umgehen kann. Weil sie die Mittel dafür nicht gestellt bekommt von der Bezugsperson, die ihr dabei helfen könnte." Zugleich könne sie sich ihrer Identität nicht versichern, sich nicht dahinein zurückziehen, weil sie das gar nicht habe.

Gefühl der Zugehörigkeit gegenüber dem Industriepark

Diese Figur habe Parallelen zu ihrer eigenen Biografie, erklärt Deniz Ohde, die in Frankfurt am Main aufgewachsen ist. Sie habe das Scheitern am Bildungssystem selbst erfahren und habe das dann als Mittelpunkt für diese Figur gewählt. Aber die Erzählerin in ihrem Buch sei schnell zu einer anderen Person geworden als sie selbst. Sie sei "sehr viel schwermütiger geworden als ich es bin", so Ohde. "Und hat dann im Verlauf auch andere Entscheidungen getroffen, als ich sie getroffen habe."
Der Rassismus, den die Hauptfigur erlebt, dringt in alle Poren – ein bisschen wie die verpestete Luft im Industriepark und das Streulicht dort. "Die Erzählerin fühlt sich diesem Ort sehr zugehörig, sagt auch an einer Stelle, dass sie diesem Ort entspringt."
Der Titel des Romans "Streulicht" – der von ihrer Lektorin stamme, betont Ohde – schaffe nochmals eine Verbindung zwischen diesem Ort und der Erzählerin. "Streulicht bezeichnet das Licht, das der Industriepark in den Himmel sendet. Gleichzeitig wird der Erzählerin auch immer wieder vorgeworfen, sie würde ihr Licht unter den Scheffel stellen."
(abr)
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