Demokratie versus Religion

Eine offene Gesellschaft ist wehrlos gegen Radikalismus

Multikultureller Friedhof Gerliswil, Gemeinde Emmen in der Schweiz: Symbole für die Weltreligionen Judentum, Christentum, Hinduismus, Islam und Buddhismus
Multikultureller Friedhof Gerliswil, Gemeinde Emmen in der Schweiz © picture alliance / Urs Fueller
Von Christian Schüle · 10.02.2015
Findet die freie Meinung des einen ihre Grenzen an den religiösen Gefühlen des anderen? Der Disput um diese Frage wurde auch mit Gewalt ausgetragen. Aber friedlich zu beantworten ist sie fast nicht, meint der Autor Christian Schüle.
Dieser Konflikt ist kaum lösbar: Religiöse Normen ringen mit demokratischen Werten. Religiöse Normen sind immer absolute Normen, demokratische Werte immer relative Werte. Der Konflikt zwischen den Kulturen ist ein Konflikt zwischen absoluten Normen und relativen Wertvorstellungen, der den Dialog, die Versöhnung und das Zusammenleben zwischen dem islamischen und dem westlichen Kulturkreis in hohem Maße erschwert.
Der Konflikt ist deshalb kaum lösbar, weil es einer um das "Heilige" ist. Religiöse Gesellschaften haben eine klare Vorstellung von einem unverfügbar "Letzten". Sie leiten ihr Selbstverständnis aus dem Glauben an das und Gehorsam gegenüber dem Heiligen ab.
Die säkularisierten westlichen Gesellschaften hingegen haben keine Vorstellung mehr vom Heiligen. Ihr höchster, aus jahrhundertelangen Kämpfen gewonnener Wert ist die Unverfügbarkeit des irdischen Individuums. Der Mensch an sich genießt Autonomie und Würde, ohne Ansehen der Person und des Glaubens.
Das Heilige braucht weder Gründe noch Begründungen. In seinem Namen ist jedes Verhalten, ist jede Gewalt gegen das Individuum gerechtfertigt, kann alles angeblich Ungläubige mit dem Verdikt der "Gotteslästerung" bekämpft werden. Als politische Ideologie entzieht sich das Heilige jeder Empirie, da es in einer übersinnlichen Welt angesiedelt ist, wo es keinerlei Überprüfung standhalten muss und kann.
Überall dort, wo im Namen eines Gottes gemordet wird, braucht man eine Letztbegründung, deren häufigste der Begriff der "Wahrheit" ist. Überall dort, wo Demokratie herrscht, werden Letztbegründungen im Namen einer Wahrheit bewusst verweigert.
Die Unverfügbarkeit des Heiligen und die Unverfügbarkeit des Individuums sind so gegensätzliche Leitmotive, dass sie sich philosophisch, rechtlich und politisch kaum miteinander in Einklang bringen lassen. Die metaphysische Auffassung unterwirft die gesellschaftliche Ordnung einer Offenbarung, die postmetaphysische hingegen setzt auf eine Ordnung der Offenheit.
Demokratie ist die verletzlichste aller Gesellschaftsformen
Demokratie ist die anspruchsvollste, aber auch verletzlichste aller bekannten Gesellschaftsformen, weil sie prinzipiell für jedermann offen und auf die aktive Teilnahme jedes ihrer Mitglieder angewiesen ist. Sie unterzieht sich permanenter Selbstüberprüfung durch das dauerhafte Selbstgespräch. Das setzt, wie Jürgen Habermas uns gelehrt hat, kommunikative Rationalität voraus, um Widersprüche vermitteln, Kompromisse finden und dem besseren Argument Geltung verschaffen zu können.
Die Normen einer säkularisierten Demokratie müssen in permanent sich wandelnden kulturellen und sozialen Kontexten hinterfragt und abgewogen werden; ihre Geltung ist abhängig von den Sozialverhältnissen in der Gesellschaft, somit sind sie relativ.
Deshalb ist eine offene Gesellschaft wehrlos gegen jede Form von Fanatismus, Fundamentalismus und Radikalismus, gegen eine geoffenbarte Religion, deren Lebensregeln aus dem Absoluten abgeleitet werden.
Die Aufgabe von Politik besteht darin, diesen theoretisch unlösbaren Konflikt praktisch zu entschärfen und zu moderieren. Unsere Freiheit, heißt es jetzt immer wieder, sei ein hohes Gut, das es gegen Angriffe und Anschläge zu verteidigen gelte. Ganz gewiss, aber Freiheit ist ohne Verantwortung nicht zu haben, und Freiheit in Verantwortung heißt immer auch, die Konsequenzen des eigenen Handelns oder Nichthandelns miteinzubeziehen.
Die Freiheit des Einen endet dort, wo sie die Freiheit des Anderen verletzt oder einschränkt. Das lehrt uns die Aufklärung. Und Aufklärung beginnt mit dem Verstehen des Anderen und mit dem Wissen um seine Normen, und sie endet bei der Widerlegung vom Stereotypen.
Tragen wir aufgeklärte Demokraten Sorge also dafür, dass uns der Andersdenkende, der Andersgläubige und der Andersfühlende nicht verlorengeht in diesem irrsinnigen Kampf der Kulturen, gerade weil uns das Individuum "heilig" ist.
Christian Schüle, 44, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der ZEIT und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg.
Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und den Essay "Wie wir sterben lernen" (Pattloch Verlag). Im März erscheint sein neues Buch "Was ist Gerechtigkeit heute?"
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Christian Schüle© privat
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