Demokratie

Der neue antirepublikanische Politiker-Typus

Wladimir Putin blickt nachdenklich drein.
Was denkt er wohl? Der russische Präsident Wladimir Putin © Alexei Druzhinin, dpa picture-alliance
Von Rolf Schneider · 06.05.2014
Wladimir Putin fordert, dass sich die Konfliktparteien in der Ukraine an einen Tisch setzen. Seine wahren Absichten behält er für sich. Das ist typisch für den neuen Typ des antirepublikanischen Politikers, sagt der Schriftsteller Rolf Schneider.
Präsident Wladimir Putin in Russland, Ministerpräsident Victor Orbán in Ungarn und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoǧan in der Türkei haben vieles gemeinsam. Alle drei verfügen über eine für einen einzelnen Regierungschef außerordentlich große politische Macht. Alle haben sie ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, das sie gerne ausstellen.
Die Menschen- und Freiheitsrechte aufgeklärter Staaten werden bei ihnen und durch sie eingeschränkt. Wirtschaftliche und soziale Probleme kompensieren sie durch aggressive nationalistische Reden und Handlungen. Ihr donnernder Patriotismus antwortet auf den Umstand, dass ihre Länder in der jüngeren Geschichte über sehr viel größere Territorien und entsprechend mehr internationales Gewicht verfügten.
Keine brutalen Diktatoren
Die drei sind keine brutalen Diktatoren. In ihren Staaten tagen gewählte Parlamente, doch die Anhängerschaft der drei stellt jeweils die mit Abstand stärkste Fraktion. Durch allerlei Gesetze und, gelegentlich, Manipulationen ist dafür gesorgt, dass bei Wahlen sich daran nichts ändert. Es existiert auch eine Opposition, doch die bleibt schwach, und ihre Versuche, sich zu emanzipieren und zuzulegen, werden durch massive Maßnahmen vereitelt.
Auch die Informationsmedien befinden sich überwiegend in der Kontrolle der Machthaber. Abweichende Meinungen dürfen vorgetragen werden, doch sie werden oft behindert und bleiben marginal. Durchweg behaupten die Regierungschefs, einer Demokratie vorzustehen. Wladimir Putin hat für die seine einen hübschen Namen erfunden: gelenkte Demokratie. Günter Grass sprach einmal, in gänzlich anderem Zusammenhang, von einer kommoden Diktatur.
Demokratisch kostümierte Einzelherrschaft
Der Politikertypus, den Orbán, Erdoǧan und Putin verkörpern, ist relativ neu. Wir haben es mit einer demokratisch kostümierten Einzelherrschaft zu tun, für die es noch keinen rechten Namen gibt; die von Journalisten und Zeithistorikern am häufigsten verwendeten Begriffe lauten autoritäre oder autokratische Führung und Populismus.
Andere, ältere Formen der Monokratie werden durch diese Art Regime abgelöst. Das waren, noch bis ins 19. Jahrhundert hinein, zunächst die an eine Adelsschicht gebundene und durch Erbfolge fortgesetzte Monarchie. Ihr folgten im 20. Jahrhundert die Diktaturen. Es gab sie weltweit. Es gibt sie bis heute, in Afrika vor allem, auch in Asien.
Unübersehbar, dass es sich dabei meist um rückständige Länder handelt; unübersehbar auch, dass die Gesamtzahl der Diktaturen in den letzten Jahrzehnten zurückging. Wo sie noch herrschen, so in China oder auf Kuba, deuten sich zuweilen Lockerungen an. Man bewegt sich dann jenem Status entgegen, den Russland, Ungarn und die Türkei besitzen.
Verlust an Freiheiten und gelebter Demokratie
Soll man dies begrüßen? Die betroffenen Länder und ihre Bewohnern werden es tun. Umgekehrt bedeuten die Veränderungen, die Russland, Ungarn und die Türkei während der letzten zehn, zwanzig Jahren erfuhren, einen Verlust an Freiheiten und gelebter Demokratie.
Richten wir unseren Blick über Europas Grenzen hinaus, nach Singapur, doch ebenso nach Bolivien und Venezuela haben wir es auch hier mit autoritär-populistischen Führungen zu tun; dass manche von ihnen sich rechts-konservativ, andere linkssozialistisch einordnen lassen, ist einigermaßen sekundär.
War folgt aus alledem? Es gibt das Phänomen. Wir sehen es, wir erleben es, wir müssen damit umgehen. Ungeachtet ihrer möglichen Defizite ist die reale Demokratie mit ihren Machtwechseln und Kontrollmechanismen jedenfalls vernünftiger, menschenwürdiger und von daher überlegen. Es mag nicht überflüssig sein, gelegentlich daran zu erinnern.
Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u.a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Seine politischen und künstlerischen Lebenserinnerungen fasst er in dem Buch "Schonzeiten. Ein Leben in Deutschland" (2013) zusammen.
Schneider, Rolf
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