Dekolonisiert euch!

Diskriminierung findet auch in Schulbüchern statt

07:24 Minuten
Ein Porträt der Studienrätin Saraya Gomis, die sich mit rassistischen Praktiken im Bildungssystem beschäftigt.
Etliche Studien belegen Antisemitismus und Rassismus in Schulbüchern, sagt die Lehrerin Saraya Gomis. © Saraya Gomis
Saraya Gomis im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 12.11.2020
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Die Studienrätin Saraya Gomis kämpft gegen Rassismus im Bildungssystem. In der Forschung und der diskriminierungskritischen Ausbildung von Lehrkräften hinke Deutschland hinterher, sagt sie. Und auch mit den Lehrmaterialien stehe es nicht zum Besten.
Stephan Karkowsky: Wer nur auf die Fridays-for-Future-Jugend schaut, könnte denken, die junge Generation, die ist ja nun wirklich in jeder Hinsicht vorbildlich, sorgt sich ums Klima, um eine diskriminierungsfreie Sprache und verurteilt ganz klar jede Form von Rassismus. Auf den Schulhöfen sieht das dann nicht mehr ganz so rosig aus, und selbst die Lehrpläne hinken bisweilen noch hinterher. All das bekämpft die Studienrätin Saraya Gomis schon lange. Auf der heutigen Jahrestagung des Rats für Migration spricht sie über rassistische Praktiken im Bildungssystem. Welche Schulnote würden Sie denn dem deutschen Bildungssystem geben im Fach Aufklärung über Rassismus?
Gomis: Ich würde vermeiden, eine Schulnote zu geben, weil Schulnoten ja immer nur einen kurzen Ausblick geben oder Einblick geben zu einer bestimmten Situation zu einer bestimmten Zeit. Von daher würde ich gerne darüber sprechen, dass wir noch viel zu tun haben, dass wir feststellen müssen, dass wir in Deutschland noch ein wenig Entwicklungsland sind, was eine kontinuierliche diskriminierungskritische Ausbildung zum Beispiel oder was die institutionalisierte Forschung angeht. Das alles sind Dinge, wo wir auf jeden Fall noch besser werden müssen. Natürlich gibt es auch einzelne gute, schöne Beispiele.
Karkowsky: Wo hakt es denn genau? Findet man wirklich noch immer Diskriminierendes in Schulbüchern oder auch im Online-Lehrmaterial?
Gomis: Ja, wir haben sogar viele Studien dazu, auch wenn wir nicht so viele Studien haben wie andere Länder, aber inzwischen holen wir auf. Wir haben viele Studien zum Beispiel zu Antisemitismus in Lehrbüchern, wir haben Studien zu Rassismen in Lehrbüchern, wir haben sogar Studien, die sich bestimmte Themen genauer angucken, zum Beispiel, wie Migration und Integration in unseren Schulbüchern verhandelt wird, und da sehen die Noten dann doch nicht sehr gut aus.

Von den Mitschülern "verandert" werden

Karkowsky: Haben Sie Beispiele für mich?
Gomis: Das kann sich ausdrücken in Aufgabenstellungen, ich nenne jetzt mal einen Klassiker: Dass Migration verhandelt wird, und dann sollen die Schüler*innen die Mitschüler*innen, die einen sogenannten Migrationshintergrund haben, dazu befragen. Und wenn ich mir jetzt eine Klasse vorstelle, dann bedeutet das ja, dass erst mal identifiziert werden müsste, wer einen Migrationshintergrund hat und wer nicht, und das geschieht ja meistens eher über phänotypische Merkmale und nicht unbedingt über reale Migrationserfahrung oder sogenannte Hintergründe.
Damit passiert etwas, dass natürlich Mitschüler*innen von Mitschüler*innen verandert werden, das heißt, zu einem anderen gemacht werden – ah, du kommst also nicht von hier. Das ist natürlich etwas, was wir nicht wollen, die Schüler*innen, die ich hier kenne, die fühlen sich als Berlin*innen und identifizieren sich erst mal so und möchten eigentlich auch so angesprochen werden. Wir wissen, dass - wenn man das lang genug macht - sie sich irgendwann nicht mehr als Berlin*innen identifizieren.
Karkowsky: Widerspricht das nicht auch vielen, die sagen, sie möchten in ihrer Identität eindeutig erkannt und benannt werden?
Gomis: Ja, aber das entscheiden Menschen dann ja selbst und nicht unbedingt in einer Situation, wo ich dazu gezwungen werde. Wenn wir gemeinsam einen Kaffee trinken und wir erzählen uns unser Leben, dann sprechen wir vielleicht darüber, aber ich möchte das jetzt nicht unbedingt immer tun, wenn ich beim Bäcker bin, wenn ich zum Bürgeramt hineingehe oder wenn ich in einem Klassenraum sitze. Das ist natürlich ein sehr verkürztes Beispiel, wir haben auch Beispiele von Bildmaterialien, die Stereotype reproduzieren, von rassistischen, antisemitischen Begriffen, von einer Darstellung von Menschen als Objekte statt als Subjekte: Das war nur ein Beispiel von sehr, sehr vielen.

Es geht nicht um die einzelne Lehrkraft

Karkowsky: Ich weiß, dass Lehrer von Brennpunktschulen Ihnen gerne entgegnen, das ist ja schön und gut mit dem Antirassismus, aber meine Erfahrung sagt mir, Probleme haben wir oft nur mit ganz bestimmten Schülern, macht mich das bereits zum Rassisten? Was entgegnen Sie diesen Diskussionen?
Gomis: Zunächst würde ich erst mal versuchen, die Diskussion auf etwas anderes zu lenken. Mein Ansatz ist nicht eine Verhandlung darüber, ob die einzelne Lehrkraft jetzt eine Rassistin ist, ideologisch geprägt oder nicht, sondern inwiefern in unserer Profession, in unserer Professionalisierung eventuell Dinge passieren, Effekte stattfinden, die Diskriminierung beinhalten können. Da geht es mir nicht so sehr um die persönliche Haltung et cetera.
Das ist ein Teil der Arbeit, daran zu arbeiten, das gehört aber sowieso regulär zum Lehrer*innenberuf, dann eben solche Blicke, die wir haben auf sogenannte oder als Brennpunkt gelabelte Schulen, wieder aufzubrechen, weil wir natürlich dazu tendieren, ein bestimmtes Erleben als allgemein gültige Wahrheit zu erkennen, was aber alle Studien, alles, was wir an Zahlen und Daten haben, gar nicht hergeben.
Da sich gegenseitig zu unterstützen, den eigenen Blick wieder ein bisschen zu relativieren. Ich hab übrigens lange an einer als Brennpunkt gelabelten Schule gearbeitet und eben auch an anderen Schulen, und ich kann dieses Urteil nicht unbedingt bestätigen, was nicht bedeutet, dass das nicht an anderen Schulen oder für andere Lehrende so sein mag. Man sollte genau hingucken, welche Professionalisierungsaufgaben muss ich vielleicht noch ein bisschen verstärken, damit ich nicht diskriminierend arbeite und auch die Probleme, die meine Schüler*innen haben – Armut, Wohnungsnot – aufgreifen und über die Schule hinaus in den Kiez wirken kann.

Saraya Gomis ist Studienrätin, unterrrichtet unter anderem Französisch und Geschichte und leistet Antidiskriminierungsarbeit beim Empowerment-Verein EOTO (EachOneTeachOne). Bis 2019 war sie drei Jahre lang die Antidiskriminierungsbeauftragte für Schulen des Berliner Senats.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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