Debatte um Sozialstaat

Der Staat und die prämierte Verantwortungslosigkeit

Luftaufnahme: Passanten in einer Fußgängerzone
"Solidargemeinschaft" war gestern, kritisiert die Autorin Katharina Döbler. Heute fordere der Staat mehr "Eigenverantwortlichkeit der Bürgerinnen und Bürger". © Daniel Bockwoldt, dpa
Von Katharina Döbler · 27.08.2015
Bildung, Gesundheit, Rente: Seit Jahren zieht sich der Staat aus vielen Bereichen zunehmend zurück. Die Schriftstellerin Katharina Döbler kritisiert: Der Staat zahle Prämien, damit die Bürger seine Institutionen möglichst wenig in Anspruch nehmen. Doch damit schaffe er sich langfristig ab.
Der deutsche Staat zieht sich in vielen Bereichen von seinen öffentlichen Aufgaben zurück. Es koste zu viel, heißt es. Als sei das Soziale in der Sozialen Marktwirtschaft ein Luxus, den man sich leistet, wenn man zu viel Geld hat.
Damals, als die Soziale Marktwirtschaft von Ökonomen erfunden und vom deutschen Wirtschaftswunderminister Erhard adaptiert wurde, konnte von Zuviel keine Rede sein. Die Idee, eine liberale Marktordnung und sozialen Fortschritt – wie es damals hieß – miteinander zu kombinieren, hat etwas Bestechendes: Die Wirtschaft wächst durch den freien Markt und seine Anreize – und der Staat sorgt dafür, dass alle etwas von davon haben. Schon damals gab es laute Zweifel, dass ein solches Konzept funktioniert.
Heute, zu Zeiten üppig fließender Steuereinnahmen, scheint klar zu sein, dass diese Zweifel berechtigt waren und sind. In der Bundesrepublik, einem der reichsten Staaten der Welt, ist sogar im Bildungswesen privates Sponsoring mittlerweile völlig normal – und auch nötig. Berliner Gymnasien lassen sich ihre Computer von Firmen bezahlen, Eltern renovieren heruntergekommene Schulräume selbst und kaufen nötigenfalls auch Toilettenpapier.
Wenn Die Bundesrepublik ein Unternehmen wäre, wäre alles bestens
An den Universitäten bindet die Jagd auf so genannte "Drittmittel" nicht nur eine Menge Arbeitsressourcen – sie bestimmt auch in hohem Maß das Programm von Forschung und Lehre.
Im Gesundheitswesen ist es ähnlich: Wir haben längst jene Zweiklassenmedizin, die es angeblich nicht gibt und die solche Patienten bevorzugt, die nicht Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen sind – oder sich einiges an Versorgung privat dazukaufen. Und die gesetzliche Altersrente reicht vielen Menschen auch nach langen Arbeitsjahren nicht zum Leben. Die Liste ließe sich noch ziemlich lange fortführen.
"Eigenverantwortlichkeit der Bürgerinnen und Bürger" heißt das Schlagwort. Aber was soll das überhaupt bedeuten? Jeder bekommt die Bildung, die sich seine Eltern leisten können?
Den Staatsfinanzen geht es damit ziemlich gut. Sogar prächtig, derzeit. Wenn die Bundesrepublik ein Unternehmen wäre und kein Staat, wäre alles bestens. Aber sie ist nun mal ein Gemeinwesen, das von seinen Bürgern finanziert wird. Es ist ja nun nicht so, dass unser "sozialer Rechtsstaat", wie er im Grundgesetz bezeichnet wird, kein Geld für soziale Belange ausgäbe.
Für heutige Ohren fast so altmodisch wie "sozialer Fortschritt"
Es gibt zum Beispiel das Elterngeld – und zwar umso mehr, je besser die Eltern verdienen. Das Fernziel dabei: Förderung von Familien, die in der Lage sind, selbst in die Bildung ihrer Kinder zu investieren. In eine ähnliche Richtung geht das – mittlerweile vom Bundesverfassungsgericht gekippte – Betreuungsgeld. Der Staat will die Bürger dafür bezahlen, dass sie eine bestimmte öffentliche Leistung nicht beanspruchen. So funktionieren auch die privaten Rentenversicherungen nach dem Riester-Modell: Die Bürger bekommen vom Staat einen Teil des Geldes wieder, mit dem sie aus eigener Tasche die Sozialkassen entlasten.
Alle diese staatlichen Instrumente haben eines gemein: Der Staat investiert erhebliche Summen, um seine Institutionen langfristig zu entlasten. Man könnte auch sagen, sie zu demontieren. Der Staat betreibt die Entstaatlichung der Sozialsysteme. Er schafft sich ab.
Vielleicht ist das nur ein Nebeneffekt des ökonomischen Effizienzdenkens, das derzeit die politische Agenda bestimmt, und keine politisches Fernziel. Man möchte es hoffen. Denn ein Staat, der sich selbst aus der Verantwortung für die Gesellschaft entlässt, verliert deren Loyalität.
Im Zusammenhang mit der Sozialen Marktwirtschaft seligen Angedenkens gab es den Begriff der "Solidargemeinschaft". Das klingt für heutige Ohren fast so altmodisch wie "sozialer Fortschritt".

Katharina Döbler, Journalistin und Autorin in Berlin, Redakteurin bei Le Monde diplomatique, schreibt für die ZEIT und den Rundfunk, ein Roman ist 2010 erschienen: "Die Stille nach dem Gesang".

Katharina Döbler
Katharina Döbler© privat
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