"Man sollte versuchen, sie zu verringern"

Sybille Herbert im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 19.01.2010
Die Publizistin Sybille Herbert, die selbst an Krebs erkrankt war, hat sich durch den Dschungel des Gesundheitssystems gekämpft und beklagt eine Zweiklassenmedizin. Als Mittel dagegen forderte sie, dass "für alle das Gleiche gilt".
Liane von Billerbeck: Im deutschen Gesundheitswesen wird heimlich rationiert, weil nicht genügend Geld für alle zur Verfügung steht, um allen Menschen die optimale Therapie zu verschaffen. So ließ sich Bundesärztekammer-Präsident Jörg-Dietrich Hoppe am Wochenende in einem Interview vernehmen. Nicht jeder Krebspatient, so sagte er, bekomme heute das sehr teure Krebsmedikament.

Er forderte deshalb eine offene Debatte darüber, welche Patienten mit welchen Krankheiten künftig vorrangig behandelt werden, denn bislang entscheidet jeder Arzt selber, wem er welches Mittel gibt und also wessen Leben verlängert wird. Zugespitzt also, welches Leben mehr wert ist als das andere. Dass nicht alles für jeden bezahlbar ist, das ist auch das Fazit der Recherchen von Sybille Herbert.

Die Autorin, die selbst an Krebs erkrankt war, hat sich durch den Dschungel des Gesundheitssystems gekämpft, und ihr Fazit lautet: Diagnose unbezahlbar. Auch der Titel ihres Buches heißt so, im Untertitel "Die Praxis der Zweiklassenmedizin". Frau Herbert, einen schönen guten Morgen!

Sybille Herbert: Guten Morgen!

von Billerbeck: Wie haben Sie als gesetzlich Versicherte bei Ihrer Erkrankung die Zweiklassenmedizin erlebt?

Herbert: Ja, erst mal habe ich ja gedacht, es gibt gar keine. Ich dachte natürlich, für mich gelten die gleichen Regeln als gesetzlich Versicherte wie für jeden anderen auch.

Das fing natürlich dann schon damit an, dass es eben sehr schwierig war, trotz einer Krebsdiagnose in einem radiologischen Institut Termine zu erhalten. Das kennen wir alle, dass man als gesetzlich Versicherter eben hinten ansteht und privat Versicherte vorgezogen werden. Das war also nicht so ganz was Neues.

Aber ich brauchte dann zum Beispiel für den Beginn der Chemotherapie ein Herzecho, und die Ärztin sagte mir ganz klar, das ist auf normalem Wege nicht zu bekommen, da sind Wartezeiten von vielen, vielen Wochen.

Und sie hat mir dann geraten, ich soll mir doch über persönliche Kontakte ein Herzecho besorgen, so, als ob man das kaufen könne im Supermarkt, wie Butter und Brot. Ich bin dann wirklich schwer aktiv geworden und habe es dann tatsächlich geschafft, innerhalb von 24 Stunden mir über persönliche Kontakte ein solches Herzecho zu besorgen.

Das hat mich schon ziemlich auf den Boden der Realität zurückgeholt. Und noch ein anderes Beispiel: Ich hatte für meine Brustkrebserkrankung wurde mir dringend geraten, ein MRT zu machen, also eine Magnetresonanztomografie, und eine solche Magnetresonanztomografie der Brust gehört aber nicht zum Leistungskatalog der Krankenkassen.

Viele Krankenhäuser machen das inzwischen dann ich sag jetzt mal schwarz, also das heißt, die machen so ein MRT, ohne dass das bezahlt wird. In meinem Fall war es so, dass ich das dann aus meiner privaten Schatulle bezahlt habe. Ich glaube dennoch, dass ich eine optimale Therapie erhalten habe, aber ehrlich gesagt, damals hatte ich gar nicht das Wissen, um überhaupt zu beurteilen, ob die Therapie, die ich bekommen habe, die richtige war und ob ich sozusagen unterschiedlich behandelt worden bin zu anderen oder nicht, ganz schlicht einfach, weil mir dazu das Wissen fehlte.

Und ich glaube, da geht es fast allen Patienten so. Und deshalb habe ich mich dann eben aufgemacht und hinter die Kulissen geschaut, um mal zu erkennen, ob es tatsächlich so eine Rationierung gibt, von der Herr Professor Hoppe gesprochen hat.

von Billerbeck: Was haben Sie denn nun entdeckt hinter den Kulissen des Gesundheitssystems?

Herbert: Na ja, das ist eigentlich ja ganz klar. Ich meine, schon immer, und das ist gar nichts Neues, ist sozusagen die finanzielle Ressource die begrenzende Zahl. Also wenn ich kein Geld mehr habe, kann ich nichts mehr ausgeben, das ist immer so. Und das gilt sowohl im Krankenhaus als auch in der ambulanten Versorgung.

Das weiß auch jeder Arzt, und das erlebt auch jeder Arzt. Und dafür gibt es eigentlich drei Gründe: Zum einen ist es eben so, dass Ärzte ein Budget haben, ein Arzneimittelbudget, und das sollen sie eben nicht überschreiten. Das heißt, der Arzt muss schon auch entscheiden, kann ich das jetzt noch verschreiben oder nicht oder geht das überhaupt.

Der zweite Punkt ist: Auch die Krankenhäuser haben Haushaltsberatung. Da sitzen dann die Krankenkassen mit den Verwaltungsdirektoren zusammen und verhandeln sozusagen für das kommende Jahr, wie viel Geld für die einzelnen Bereiche ausgegeben wird. Und das gilt natürlich auch für die Onkologie. Da wird dann gesagt, soundso viel Hunderttausende oder meinetwegen Millionen, je nachdem, wie groß das Krankenhaus ist, steht dafür zur Verfügung.

Und zum Dritten – und das darf man nicht vergessen – ist es eben so, dass es Leistungsobergrenzen gibt, also einen Leistungskatalog für gesetzlich Versicherte. Und in diesem Katalog steht eben drin, was bezahlt wird und was nicht. Und daran hat der Arzt sich zu halten. Ich will Ihnen mal ein Beispiel geben: Es gibt eine sehr teure diagnostische radiologische Maßnahme, das ist das sogenannte PET/CT – kann man auch gleich wieder vergessen, kompliziert –, das ist nicht zugelassen zum Beispiel für Darmkrebs. Und das ist auch längst nicht immer sinnvoll. Also es sollen jetzt nicht die Leute losrennen und sagen, ich will so ein PET/CT haben, um Gottes Willen soll man das lassen. Aber es gibt eben einzelne Situationen, wo das durchaus sinnvoll ist.

Und bei einem Darmkrebspatienten haben die Ärzte zum Beispiel gesagt, er solle das machen, weil alle anderen Methoden eben versagt haben. Und dieser freiwillig Versicherte, übrigens in einer gesetzlichen Krankenversicherung, zahlte dann selbst die 1304 Euro.

Man fand eine einzelne Lebermetastase, die man operieren konnte, und dem Mann geht es heute sehr gut. Und er hat auch prozessiert und hat aber verloren, es wurde also von der Krankenkasse nicht bezahlt. Und er sagt ganz klar: Hätte ich diese Untersuchung nicht gemacht, dann wäre ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben.

von Billerbeck: Sie beschreiben ja eigentlich darin ein Dilemma, dass gerade bei Krebserkrankungen so deutlich ist, weil ja – das sagt die Pharmaindustrie selber – die Therapien immer mehr auf den einzelnen Patienten zugeschnitten werden, jedenfalls versucht man das.

Das heißt natürlich, dass sie immer teurer werden, dass also da Kosten auflaufen, die sind astronomisch. Wer entscheidet denn nun aber prinzipiell, welche Therapien, auch die sehr teuren, von den Krankenkassen bezahlt werden?

Herbert: Ja, das ist so: Es gibt also den Gemeinsamen Bundesausschuss, das ist ein Organ, das sozusagen von dem Gesundministerium, von der Bundesregierung den Auftrag bekommen hat, diese Entscheidungen zu treffen, also nicht nur für Krebs, sondern für alles.

Das bestimmt, was im Leistungskatalog drin ist und was nicht. Und dieses Institut soll eben die Spreu vom Weizen trennen, das soll eben sagen, das ist unnütz, und das kostet nur viel Geld und soll das gegeneinander abwägen, die Kosten und die Nutzen.

von Billerbeck: Wodurch ist dieses Gremium legitimiert?

Herbert: Na ja, es hat sozusagen von der Regierung den Auftrag bekommen. Es gibt viele Juristen, die sich darüber unterhalten, ob das ausreicht als Legitimierung, aber Fakt ist, dass dieser Ausschuss seit vielen, vielen Jahren diese Entscheidungen trifft und die dann sozusagen von der Bundesregierung veröffentlicht und auch abgesegnet werden.

Es ist eben so, dass man in der Krebstherapie das ganz schwierig hat. Also ich will Ihnen mal ein Beispiel geben: Der Gemeinsame Bundesausschuss, der will ja die Patienten schützen – unter den finanziellen gegebenen Möglichkeiten –, bis beispielsweise für jedes Stadium einer Krebstherapie bewiesen ist, dass dieses Präparat auch wirkt, ja? Klingt super! Der Onkologe aber, der Arzt, der steht vor dem Problem, was kann ich für diesen einen Patienten noch tun?

von Billerbeck: Und der versucht natürlich alles dann.

Herbert: Und der versucht natürlich alles. Und da kann man praktisch sagen, beide haben den Nutzen im Blick, beide, die eine den gesellschaftlichen Nutzen sozusagen, nur definieren sie den Nutzen völlig unterschiedlich. Und noch mal vielleicht ein Beispiel aus dem Darmkrebsbereich: 1995 gab es eine Therapie beim fortgeschrittenen Darmkrebs, also wirklich weit fortgeschrittenen Darmkrebs, heute gibt es ganz, ganz viele. Und jetzt kommt's: Die Lebensverlängerung hat sich aber damals von einem Jahr durchschnittlich auf knapp zwei verdoppelt.

Jetzt ist natürlich die Frage: Lohnt sich der Einsatz dieser ganzen Artillerie von neuen Medikamenten, wenn es dadurch nur ein Überleben jeweils von drei, vier Monaten mehr gibt? Das heißt, es gibt Medikamente, die kosten 50.000 Euro im Jahr, das ist also eine Menge, Menge, Menge Geld, und dann kann man natürlich fragen, lohnt sich der Einsatz eines solch teuren Medikamentes, wenn dadurch der Mensch nur vier Monate länger lebt. Das sind ganz makabre und ethische Fragen.

In Großbritannien übrigens, mal so ein Blick über die Grenze, hat man sich da entschieden und sagt ganz klar, nein, das lohnt sich nicht, und in Deutschland tut man so, als würden alle alles bekommen und als könne man sich das alles auf Dauer leisten.

von Billerbeck: Ärztekammerpräsident Hoppe hat ja nun eine politische Debatte gefordert darüber, was wir uns künftig noch leisten können. Wer sollte nun diese Entscheidung treffen, die ja im Ernstfall für den einzelnen Menschen eine Entscheidung über Leben und Tod bedeuten kann? Sollten das die Abgeordneten des Bundestages tun, weil die sind ja zumindest demokratisch legitimiert?

Herbert: Richtig. Also der Bundestag ist ganz klar zuständig. Aber die Frage ist, ob die Politik überhaupt die Debatte will. Es gab ja auch auf das, was Professor Hoppe gesagt hat, eine Replik des Gesundheitsministers, der ganz klar gesagt hat, das lehnt er ab, und er leugnet auch, dass es diese Form der Rationierung gibt. Das zeigt eben auch, es ist immer noch ein Tabu, über dieses Thema zu reden.

Und man muss auch was anderes noch hinzufügen: 70 Prozent der Bundestagsabgeordneten sind privat versichert, das heißt, sie erleben und kennen dieses Problem aus eigener Anschauung sicherlich eher selten. Wie sollen sie dann auch darüber entscheiden? Also für mich ist schon auch die Frage, ist das der richtige Platz? Das ist ja ein Riesenorchester, dass da zusammenspielt. Sie müssen auch überlegen, der Gemeinsame Bundesausschuss, den ich erwähnt habe, der trifft ja auch Entscheidungen.

Das heißt, da sitzen Menschen am grünen Tisch, die nicht unbedingt praktizierende Ärzte sind, sondern das sind also Juristen, Funktionäre aus den Krankenkassen, auch Ärztefunktionäre, und die entscheiden über solche Therapien. Und wenn sie dann mal in so sagen wir mal Fachkonferenzen von Gynäkologen oder von Onkologen oder innerer Medizin gehen, dann stellen Sie fest, selbst da streiten sich sozusagen die Ärzte über den richtigen Weg. Und mich wundert dann immer, dass man am grünen Tisch solche Entscheidungen scheinbar leichter treffen kann.

von Billerbeck: Gibt es ein Gegenmittel gegen diese Zweiklassenmedizin, die ja nun existiert, da gibt es ja offenbar keinen Zweifel mehr, Frau Herbert?

Herbert: Ja, das kann ich Ihnen, also das ist natürlich sehr schwierig. Wenn ich da das Ei des Kolumbus hätte, wäre das ganz super. Ich glaube schon, dass es erst mal nötig ist, darüber zu diskutieren, und ich glaube vor allen Dingen, dass wir abschaffen müssten, dass es zwei verschiedene Versicherungen in Deutschland gibt. Die GKV-Versicherten können ja gar nicht entscheiden, die sind zwangsversichert, die können sich höchstens eine Zusatzversicherung besorgen. Also ich glaube, erst einmal ...

von Billerbeck: Und wie sollte diese ...

Herbert: ... sollte für alle das Gleiche gelten.

von Billerbeck: Genau. Und wie sollte diese Versicherte ausgehen, also wäre das die Abschaffung der privaten Krankenversicherung?

Herbert: Ah ja, das wusste ich, dass Sie das jetzt stellen. Mir ist das ehrlich gesagt egal. Also ich sag mal, man könnte auch, da gibt es ganz viele Modelle, aber ich glaube, es sollte für alle Menschen das Gleiche erst mal gelten.

Sie werden die Zweiklassenmedizin, es wird immer Unterschiede geben, aber man sollte versuchen, sie zu verringern. Und das wäre beispielsweise der Fall, wenn wirklich für alle das Gleiche gilt. Welches Modell man sich dann hinterher einigt, also da muss man drüber diskutieren. Aber Fakt ist, wir sollten alle auf der gleichen Ebene in dieses System sozusagen den Einlass kriegen, das, denke ich, wäre auf jeden Fall wichtig.

von Billerbeck: Diagnose unbezahlbar, sagt Sybille Herbert, Krebspatientin und Buchautorin über die Praxis der Zweiklassenmedizin in Deutschland. Danke Ihnen für das Gespräch!

Herbert: Gerne!