Debatte um Corona-Impfung

Wir sind alle geimpft - mit Grundrechten!

04:35 Minuten
"Zutritt nur nach 2G-Regel" steht auf einem Schild im runden Fenster einer Tür. (Symbolfoto)
Hinweis auf 2G-Regel: Ungeimpfte werden von gesellschaftlicher Teilhabe mehr und mehr praktisch ausgeschlossen, kritisiert Heribert Prantl. (Symbolfoto) © imago images / Future Image
Ein Standpunkt von Heribert Prantl · 28.09.2021
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Ist die solidarische Gesellschaft nur für Vernünftige da - oder auch für jene, die tatsächlich oder angeblich falschliegen? Wer eine Impfung ablehnt, muss nicht gleich auch ein Staatsfeind sein, meint der Publizist und Jurist Heribert Prantl.
Man kommt geimpft auf die Welt. Man kommt auf die Welt und ist von da an und zeitlebens geimpft mit Grundrechten. Man hat sie von Anfang an. Man hat sie, weil man Bürgerin oder Bürger, man hat sie, weil man Mensch ist.
Grundrechte sind im demokratischen Rechtsstaat keine Privilegien, die man sich erst durch ein bestimmtes Handeln oder durch ein bestimmtes Verhalten verdienen kann oder verdienen muss.
Der Mensch ist von Anfang an mit Grundrechten geimpft. Es ist dies ein Schutz, der da ist und da bleibt, wie immer das Leben eines Menschen verläuft, welches Leben er auch lebt.

Der Pandemiestaat neigt zur Übergriffigkeit

Im Staat der Pandemie ist das anscheinend anders. Da muss man sich gegen Corona impfen lassen, um die Grundrechte voll und ganz in Anspruch nehmen zu dürfen.
Wer sich nicht impfen lässt, der wird zwar nicht festgehalten und zwangsgespritzt, er wird aber gedrängt und gezwiebelt. Er wird von der gesellschaftlichen Teilhabe mehr und mehr praktisch ausgeschlossen. Das Alltagsleben öffnet sich nur noch den Geimpften und den Gesundeten – den Ungeimpften allenfalls und vielleicht dann, wenn sie sich testen lassen. Nach der 2G-Regel auch dann nicht.
Für Ungeimpfte soll es in Deutschland auch keine Lohnfortzahlung mehr geben, wenn sie in Quarantäne müssen, weil ihr Kind sich in der Schule Corona eingefangen hat. Es gibt Forderungen, dass Ungeimpfte, wenn sie ins Krankenhaus müssen, dafür einen Eigenbeitrag zahlen müssen, "Selbstbehalt für Nichtgeimpfte" heißt es in Österreich.
Es entsteht eine finanzielle Impfpflicht. Wer sich nicht impfen lässt, soll blechen. Wer nicht hören will, muss fühlen: Weil er sich nicht solidarisch verhält, wird er aus der Solidargemeinschaft verstoßen.
Das Argument dafür lautet: Warum soll die Gesellschaft der Geimpften, die, die sich nicht mehr testen lassen muss und die keine Quarantäne mehr braucht, warum soll sie für die anderen, für die Nichtgeimpften, zahlen? Warum? Weil das unsere Gesellschaft ausmacht.

Für eine solidarische Gesellschaft ohne Schuldrechnungen

Die solidarische Gesellschaft ist nicht nur für die da, die angeblich alles richtig machen. Sie ist auch für die da, die echt oder angeblich einiges falsch machen. Solidarität hängt nicht davon ab, dass der, der Hilfe braucht, sich so verhält, wie es die anderen erwarten. Das Spital ist daher auch für den geöffnet, der betrunken an den Baum gefahren ist.
Die Gesellschaft verabschiedet sich von dieser Solidarität, wenn sie den schneidet und schurigelt, der sich nicht impfen lässt – obwohl es ja angeblich keine Impfpflicht gibt.
Das Corona-Denken ist dabei, die Individualgrundrechte zu vergemeinschaften und der Volksgesundheit unterzuordnen. Die Individualrechte werden kollektiviert. Ein freiheitsfeindlicher Zeitgeist diskreditiert Grundrechte als Egoistenrechte. Das ist falsch.
Die Gefahr in der Gefahr sehe ich darin: Die Menschen werden daran gewöhnt, dass heftige Einschränkungen der Grund- und Bürgerrechte zu den Bewältigungsstrategien einer Krise gehören – und dass das Unverhältnismäßige in Krisen als verhältnismäßig gilt. Die Begleitmelodie dazu lautet: "Man kann sich ja die Grundrechte durch ein bestimmtes Verhalten wieder verdienen!"
Die Individualgrundrechte werden aber auf diese Weise nicht nur eingeschränkt, sie verändern auch komplett ihren Charakter.

3A-Regel ist besser als jeglicher Impfzwang

Ich bin ganz eindringlich für das Impfen, aber gegen die Impfpflicht. Eine Impfpflicht ist kein probates Mittel, um Menschen vom Sinn einer Impfung zu überzeugen, zumal dann nicht, wenn die Politik monatelang versichert hat, dass sie nicht kommt.
Mit Haudrauf, mit Bedrängen, mit Beschimpfen und mit Beleidigen gelingt das Werben für das Impfen auch nicht. Das gelingt mit kluger Aufklärung, wie das einst bei der Kinderlähmung gelang.
Man darf Gegner einer Impfpflicht auch nicht einfach pauschal als "Impfgegner" abservieren. Viele haben gar nichts gegen Impfung, sind selber geimpft, also gewiss keine Impfgegner. Sie haben aber etwas gegen staatlichen Zwang – sie sind also Zwangsimpfungsgegner. Das ist etwas anderes.
Es ist Zeit für Abrüstung in der Corona-Debatte. Abrüstung, Aufklärung und Achtung der Grundrechte. Das ist die 3A-Regel für die kommenden Monate. Und man sollte die ganze Gesellschaft locken: Wenn eine Impfrate von 85 Prozent erreicht ist, fallen alle Beschränkungen, alle Corona-Regeln, alle Maskenpflichten weg. Dann ist, sozusagen, Weihnachten.

Heribert Prantl, Jahrgang 1953, ist promovierter Jurist und war bis 2019 Leiter der Ressorts "Innenpolitik und Meinung" sowie Mitglied der Chefredaktion der "Süddeutschen Zeitung". Für seine Arbeiten wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, unter anderem mit dem Kurt-Tucholsky-Preis und dem Theodor-Wolff-Preis.

Prof. Dr. Heribert Prantl
© Heribert Prantl / Jürgen Bauer
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