DDR-Turnerin Gabriele Fähnrich

Für Medaillen die Gesundheit ruiniert

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Das Turn-Team-DDR bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul, von links: Bettina Schieferdecker, Dagmar Kersten, Gabriele Fähnrich, Dörte Thümmler, Ulrike Klotz.
Gabriele Fähnrich, in der Mitte mit dem Magnesiumblock, 1988 mit dem Olympiateam. © imago / Werek
Von Beatrice Zajda · 06.10.2019
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Sie gehörte zu den erfolgreichsten DDR-Turnerinnen: Gabriele Fähnrich. Training und Wettkampf unter Schmerzen waren Schattenseiten des Erfolgs, ebenso wie verbotene Substanzen. Angst und psychischer Druck begleiten Fähnrich bis heute.
"Es war so herrlich, das letzte Mal auf der Bühne dazustehen", erzählt die ehemalige Turnerin Gabriele Fähnrich. "Das nie wieder machen zu müssen, das war irgendwie trotzdem richtig schön. Endlich der ganze Druck, die ganze Belastung von all den Jahren, die Schmerzen, die man permanent hat, die Angst, in der Hoffnung, dass das vielleicht mal aufhören wird. Das war das Schöne daran. Das war das letzte Mal, dass man da oben steht. Die Vorstellung, du machst das nie wieder, war irgendwie herrlich."
Nach der Bronzemedaille mit der DDR-Mannschaft bei den Olympischen Spielen in Seoul 1988 beendete Fähnrich ihre sportliche Karriere – ein Jahr vor dem Mauerfall. Sie durfte eine zweijährige Lehrstelle als Kosmetikerin antreten, bekam den Schlüssel für eine Wohnung in die Hand gedrückt und jeweils in zwei Etappen Geld von einem Mann aus dem Sportforum der Staatssicherheit in Berlin.

Hohes Trainingspensum

Erfolg im Sport wurde mit Geld und Privilegien honoriert. Gesundheit ignorierten Trainer und Ärzte, Wohlbefinden gab es nicht:
"Das fing mit meinen Knieschmerzen schon in der fünften Klasse an", berichtet Fähnrich. "Meine Erinnerung besteht darin, dass ich permanent gespritzt wurde, Tabletten gekriegt habe zum Knorpelaufbau und wieder gespritzt und noch mal gespritzt und ich permanent Schmerzen hatte."
Kein Wunder bei einem täglichen Trainingspensum von bis zu insgesamt acht Stunden am Stufenbarren, Balken, Boden oder Pferd. Für Trainer Wolfgang Riedel und Verbandsärztin Gudrun Fröhner waren Schmerzen unangenehm und wurden verdrängt, beklagt die ehemalige Leistungssportlerin Fähnrich. Die Antwort waren Pillen und Spritzen. Dopingexperte Wilhelm Schänzer vom Biochemischen Institut an der Sporthochschule Köln:
"Wenn mit anabolen Steroiden gearbeitet wird, was Medikamente sind, die entwickelt worden sind für einen erwachsenen Mann, gerade nach Unfällen und so weiter, damit die Muskelbildung und -heilung besser abläuft. Sie waren bei erwachsenen Frauen schon immer kontraindiziert wegen der Nebenwirkungen, und dann solche Substanzen bei Jugendlichen anzuwenden, das ist kriminell."

Hoffnung auf Westaufenthalt

Erfolg um jeden Preis. Schon im frühen Kindergartenalter wurden Talente aussortiert und auf sogenannte Sportkindergarten und später auf Sporthochschulen versetzt. Für die Kinder war es eine Ehre. Sie wurden delegiert.
Die Eltern waren stolz. Hatten ihre Sprössling doch die Chance, einmal in den Westen für Trainingslager oder Wettkampf zu fahren. Von unerlaubten und nicht zugelassenen Tabletten erfuhren die Eltern nichts:
"Irgendwann war der Zeitpunkt gewesen, man sollte mal mit dem Trainer hoch ins Zimmer", erzählt Fähnrich. "Dann wurde man kurz eingewiesen, dass man eine Tablette bekommt, eine Vitaminpille, diese kleine blaue Pille, die gut für mich wäre. Ich solle aber nichts den Eltern sagen und auch nicht mit meinen Sportkameraden darüber reden. Dann hat man die Pille genommen, was auch immer das ist. Es war ja alles im Vertrauen gewesen. Letztendlich ist man wie eine große Familie da. Da war Vertrauen drin."

Erhebliche Nebenwirkungen

Das Vertrauen wurde missbraucht, die Gesundheit der Sportlerinnen und Sportler gefährdet. Wie gefährlich Doping auch schon im Kindes- und Jugendalter ist, erklärt Biochemiker Schänzer:
"Das kann zu massiven Nebenwirkungen führen. Wir wissen ganz besonders, dass am Herzen Veränderungen sind, die pathologisch sind, die nicht mehr reversibel sind. Es kann Veränderungen an der Leber geben bis hin zum Leberabbau. Das kann zum Tode führen. Die Frauen können verändert werden. Die Menstruation, Zyklus wird verändert bis hin zum Ausbleiben. Es gibt eine Vielzahl von Nebenwirkungen, die man bei Personen festgestellt hat, die lange Zeit mit diesen Substanzen gearbeitet haben. Das ist gegen jegliche Ethik. Man muss sagen, die Leute, die das gemacht haben, das sind Verbrecher."
Gabriele Fähnrich auf dem Schwebebalken bei den Olympischen Sommerspielen in Seoul 1988 im Kunstturnen.
Gabriele Fähnrich© imago /Norbert Schmidt
Die haben genau gewusst, was sie taten, denn die Nebenwirkungen waren auch in der DDR bekannt, so Schänzer. Als Gabriele Fähnrich Anfang der 90er-Jahre einen Artikel über Doping in den Händen hält, war das Entsetzen groß:
"Das weiß ich heute noch, wie ich da gesessen habe", erzählt Fähnrich. "Das war damals im Dienst gewesen. Ich lese und es ging gerade los mit DDR-Doping-Geschichte. Dann stand in der Zeitung ein Artikel über das ganze Geschehen und unter anderem ein Bild mit der Schachtel und dann sehe ich dies. Die haben wir ja auch gekriegt! Und das war Doping! Ja. Da war ich ganz schön erschrocken darüber. Also sprachlos eigentlich."

Auch die Psyche leidet unter Doping

Doping verabreichten Trainer und Ärzte. Die Psyche wurde unter Druck gesetzt, Verletzungen verharmlost. Besonders vor wichtigen Wettkämpfen wie Weltmeisterschaften zählten nur Medaillen: 1985 holte Gabriele Fähnrich den Weltmeistertitel am Stufenbarren in Montreal.
"Das wusste ich gar nicht", sagt Fähnrich. "Das kam im Laufe des Wettkampfs so raus, als ich im Hotel vorm Spiegel stand und grade meine Haare geföhnt habe, gucke ich so und sehe meinen Oberarm und sehe da eine Beule rauskommen. Dann habe ich gefühlt, so zehn Zentimeter weiter unten, da war ein richtiges Loch, da konnte ich bis zum Knochen durchfassen. Und daraufhin war ich ganz erschrocken und habe die Verbandsärztin gefragt. Was ist das? Und da sagte sie nur, da kann ich mich genau dran erinnern. Ach! Hast es jetzt doch entdeckt. Du hast da einen Muskelfaserriss."
Schmerzen, die der Körper nicht mehr wahrnimmt, verändern auch die Psyche. Dopingexperte Schänzer weist auf die Gefahr dieser Substanzen hin:
"Es sind Neuroleptika verwendet worden, die nicht zugelassen waren. Die im Körper zwar selber gebildet werden können, die letzten Endes dazu führen, dass man angriffslustiger wird, aggressiver, Stress besser bewältigen kann. Das war die Idee, die dahinter steckt. Aber das sind doch große Mengen an Substanzen, die von draußen zugeführt werden, das ist nicht zulässig gewesen. Wie diese Polymedikation, wie die Nebenwirkungen sind, kann man gar nicht vorhersagen, das kann man beobachten vielleicht, das sind Experimente an Menschen."

Trotz Verletzung beim Wettkampf

Aufhören wollte die Turnerin jeder Zeit. Das war unmöglich. Gehörte sie schon in frühen Jahren zum Olympiakader. Trotz Verletzungen schreckte die DDR-Sportriege mit Manfred Ewald an der Spitze nicht davor zurück, sie 1988 bei den Olympischen Spielen einzusetzen, obwohl sie verletzungsbedingt hätte aufhören müssen:
"Ich hatte permanent Schmerzen, aber das wurde mir nicht abgenommen", erzählt Fähnrich. "Die kriegt Tabletten, die kriegt Spritzen. Alle möglichen Leute waren da gewesen. Haben mir zwei Stunden einen Vortrag gehalten, dass ich in Unehren entlassen werde. Du bekommst keine Vergünstigung. Was soll der ganze Schnee. Von einer Wohnung, von einem Auto gehen die Schmerzen nicht mehr weg. Irgendwann aus Verzweiflung habe ich ja gesagt."

Austausch mit Sportkameradinnen

Es hat lange gedauert, bis die Geschädigte Hilfe vom Berliner Doping-Opfer-Hilfe-Verein in Anspruch nahm und über ihre Leiden reden konnte. Durch ein Gutachten wurde sie vor zwei Jahren als Dopingopfer anerkannt. Die Liste ihrer Erkrankungen ist lang: permanente Schmerzen, nicht nur Rücken und Knie, hoher Blutdruck; posttraumatische Belastungsstörung: Der Leistungsdruck von damals beschert ihr seit 30 Jahren keine ruhige Nacht.
Eingeschränkt ist sie schon lange im alltäglichen Leben. Die Hilfe von 10.500 Euro als anerkanntes Dopingopfer heilt keine körperlichen, keine seelischen Wunden. Und Spätfolgen des Dopings sind nicht auszuschließen.
Das Treffen mit einer Sportkameradin aus ihrer Trainingszeit ist ihr wichtig und ein sicheres Umfeld. Denn das missbrauchte Vertrauen von Trainern und Ärzten an der Kinder- und Jugendsportschule Hohenschönhausen in Berlin während ihrer Zeit als Leistungsturnerin hat Spuren hinterlassen.
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