DDR-Fluchtgeschichte

"Sie wollen das Abenteuer, sie suchen die Freiheit"

Moderation: Britta Bürger · 05.03.2014
Der Journalist Peter Wensierski hat die Geschichte von Jens und Maria aufgeschrieben, einem Studentenpaar aus Ost-Berlin, das mit einem gefälschten Dokument durch Asien reiste. Ihr Beispiel mache Mut, das Unmögliche zu wagen, sagt er.
Britta Bürger: Mit der gefälschten Einladung eines mongolischen Bergsteigervereins schafft es ein Studentenpaar 1987, von Ostberlin über Russland und die Mongolei bis nach Peking zu reisen. Klingt wie ein Märchen, ist aber eine wahre Geschichte, die der "Spiegel"-Journalist Peter Wensierski in seinem neuen Buch nacherzählt. Herr Wensierski, herzlich Willkommen im Radiofeuilleton!
Peter Wensierski: Sehr gern, guten Tag!
Bürger: Es ist Geschichts- und Geschichtenmaterial, das Sie aus Ihrer langen Zeit als Reisekorrespondent in der DDR übrig behalten haben, oder wie sind Sie auf diese Geschichte gestoßen?
Wensierski: Nein, das war ein reiner Zufall am Rande eines Gespräches, als ich davon hörte, dass jemand über China in den Westen gekommen ist – das wollte ich genauer wissen, und das entpuppte sich als eine wirklich abenteuerliche, irrsinnige Geschichte, von der ich noch nie gehört hatte ich glaube, von der es auch nicht viele gibt. Also mir hat es Spaß gemacht dann, das zu recherchieren, mit Jens und Marie, die diese weite Reise gemacht haben, auch zu sprechen. Es ist einfach eine Geschichte, die so ungewöhnlich ist und auch, finde ich, ein ganz anderes Bild auf DDR-Bürger wirf, nämlich als wirklich frech, mutig, witzig und waghalsig, die also nicht von Freiheit reden und Freiheit fordern oder darauf warten, dass sie von oben kommt, sondern sich einfach die Freiheit nehmen, die sie wollen.
Bürger: Eigentlich sind das zwei Bücher in einem, es ist die Nacherzählung dieser verbotenen Reise von Ostberlin bis Peking, die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht, und es ist aber auch die Geschichte von Menschen, die sich im Stadtteil Prenzlauer Berg, wie Sie in Abgrenzung zu Adorno schreiben, "ein halbwegs richtiges Leben im falschen geschaffen haben". Warum war es Ihnen wichtig, diese beiden Geschichten jetzt, 25 Jahre nach dem Fall der Mauer, zu erzählen?
Die 80er-Jahre in Prenzlauer Berg
Wensierski: Ich glaube, dass das Bild, das von der DDR existiert, so im Nachhinein, 25 Jahre danach nicht bei vielen Menschen der Wirklichkeit entspricht. Es gab Möglichkeiten, auch unter den Bedingungen der Diktatur, unter den restriktiven Bedingungen der DDR ein halbwegs anständiges Leben zu führen, das heißt, auch sein Gesicht zu wahren, seine Würde zu bewahren, auch das zu machen, was man will.
Also Jens und Marie, das sind zwei, die haben immer nach Lücken im System gesucht und auch diese Lücken gefunden und genutzt. Die haben nicht, wenn sie mal zum Verhör vorgeladen wurden oder wenn ihnen Schwierigkeiten in den Weg kamen und Knüppel zwischen die Beine geschmissen wurden – der Jens wurde ja exmatrikuliert zum Beispiel an der Humboldt-Universität hier in Berlin –, den Kopf in den Sand gesteckt. Sie haben nach dem nächsten, nach der nächsten Möglichkeit geguckt. Was machen wir jetzt, welchen Plan haben wir jetzt und was können wir jetzt stattdessen realisieren? Und das ist schon eine tolle Geschichte, und es macht auch Spaß, mit den beiden zu erleben, wie sie es schließlich schaffen, ihre Ideen durchzusetzen.
Bürger: Also es ging Ihnen um diese Lebenshaltung, aber auch um das damit verbundene Lebensgefühl und den Lebensstil, den Sie ja noch mal sehr genau heraufbeschwören, wie das damals aussah im Prenzlauer Berg. Das wissen die heutigen Bewohner gar nicht.
Wensierski: Ja, das Buch enthält ja ein sehr langes Kapitel, das den Prenzlauer Berg der 80er-Jahre noch mal so richtig aufleben lässt, diese Sperrmüllcontainer, die so Austauschstätten waren, um sich die Wohnungen einzurichten, wie der Kaffee aufgebrüht wurde, wie man die Wohnungen versuchte, warm zu halten.
Bürger: Hausbesetzungen, die nicht so genannt wurden.
Wensierski: Hausbesetzungen, ja. Die jungen Leute haben dieses alte Viertel für sich in Beschlag genommen und haben eben … Ja, hinter den grauen Fassaden in Ostberlin verbarg sich da ein buntes Leben, und dieses bunte Leben, das wird auch ein bisschen in dem Buch beschrieben, und da waren Jens und Marie mitten drin, am Wasserturm in der Rykestraße im Zentrum Prenzlauer Berg. Ja, sie haben zum Beispiel diese Freiheit auch auf den Dächern genutzt, also mit wenig Geld da gewohnt, ich glaube, die haben 36 Mark Miete bezahlt für ihre Einraumwohnung, und konnten dann auf den Dächern über Berlin hinweggucken und haben dort übernachtet und Marie hat dort oben gezeichnet. Heute muss man wohl, ich glaube, 600.000 Euro investieren, um diesen Blick zu haben.
Bürger: Dieser Jens hatte schon mehrere eigentlich verbotene Reisen gemacht und darüber sogar öffentliche Diavorträge gehalten. Das führte dann dazu, dass er erst seinen Studienplatz verloren hat, dann auch später die Vortragsjobs. Hat er den Konflikt mit der Staatsmacht bewusst immer wieder ausgereizt, war er sich der Gefahr des Ganzen bewusst? Das hätte ja am Ende auch im Knast enden können.
Die Angst hat beide "nicht kirre gemacht"
Wensierski: Ja, aber diese Angst, diese Bedrohung, die hat ihn nicht kirre gemacht, also er wusste dem immer zu begegnen und blieb aufrecht dabei. Jens ist eigentlich ein ganz normaler DDR-Bürger, Marie auch, also es sind keine Oppositionellen, es sind zwei Leute, die auch nicht unbedingt in den Westen wollten eigentlich, aber die der Staat im Grunde genommen … Ja, er hat sich seine Feinde geschaffen, das sieht man sehr gut, also diese Beschreibung der Exmatrikulationsszene, dieser völlig unnötige Rauswurf an der Universität – vielen Bürgern ist es so gegangen. Und Jens und Marie sind da bloß deshalb auch etwas Besonderes, weil sie dennoch eben auch an ihren Plänen da festhalten und versuchen, ihr Traumziel, die Mongolei, zu erreichen, denn sie verbindet das Reisen. Das Buch beginnt damit, dass die beiden sich in der Dunkelkammer kennenlernen, er ist Biologiestudent, sie ist Kunststudentin in Weißensee, und sie ziehen dann zusammen, wohnen im Prenzlauer Berg, aber sie wollen verreisen und sie setzen diesen Plan auch um. Sie wollen das Abenteuer, sie suchen die Freiheit.
Bürger: Diese Exmatrikulationsszene war wirklich interessant, weil dort saß ja auch die Koryphäe Günter Tembrock, der Professor, der ehemalige Professor von Jens, für ihn ein Wahnsinnsvorbild, ein Mann, vor dem er großen Respekt hatte, der ihn dann aber auch in dieser Situation nicht schützt.
Wensierski: Ja, ihn aber auch nicht verurteilt. Er war seine Hoffnung, aber Jens erlebt eben auch, dass er letzten Endes auf sich alleine gestellt ist und auch sich alleine durchschlagen musste.
Bürger: "Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht" erzählt der "Spiegel"-Autor Peter Wensierski in seinem neuen Buch, Stoff für unser Gespräch hier im Deutschlandradio Kultur. Die Prenzlauer-Berg-Szene, die haben Sie ja noch selbst intensiv miterlebt damals als Korrespondent, da konnten Sie vermutlich auch noch ordentlich aus Ihrem eigenen Fundus schöpfen. Was waren aber die Quellen für die Beschreibung dieser weiten Reise? Russland, Mongolei, China - Sind Sie dieser Route auch selbst gefolgt?
Wensierski: Also das Buch enthält auch über 40 Bilder, die haben beide fast 3000 Bilder in der Mongolei, in China gemacht, Jens hat eine Ausrüstung gehabt, 6x6-Kameras, Farbdias, hat die mitgeschleppt, und da sind fantastische Bilder dabei. Sie haben sich selbst nur sehr wenig fotografiert, von diesen 3000 Bildern sind nur 20 zu sehen, auf denen die beiden zu sehen sind. Aber es ist so, dass zu den Quellen des Buches auch gehörte, nicht nur stundenlange Gespräche, die auch wirklich Spaß gemacht haben mit den beiden, wo sie sich erinnert haben, wo sie auf dem Dachboden oder in die Garage oder in den Schuppen gegangen sind und alte Briefe, alte Karten, alte Sachen rausgeholt haben, die sie von der Reise übrig hatten – Marie hatte sogar noch einen Block Ziegeltee, den sie dauernd in der Mongolei getrunken hatten -, und es gab dann auch den Punkt, wo ich dachte, ah, die Stasi-Akten könnten hilfreich sein, und die beiden hatten das Vertrauen, mir zu erlauben, ihre Stasi-Akten zu beantragen, und da waren auch welche, und die erlaubten dann, ja, nach der Lektüre zum Beispiel diese Exmatrikulation an der Humboldt-Universität ganz genau zu beschreiben oder einige andere Sachen. Und ich fand es auch interessant, dass die Stasi eigentlich gar nichts richtig mitbekommen hatte und die beiden wirklich losziehen konnten.
Bürger: Aber die Reiseberichte aus den fernen Ländern, die haben Sie tatsächlich auch nur nacherzählt, also nicht selbst noch mal vor Ort überprüft?
Wensierski: Ja, na ja, es ist ja so, dass diese beiden Leute selbst Erlebnisse hatten, und ich habe die Erlebnisse wiedergegeben. Also sie sind eben getrampt, und das ist auch auf den Fotos dokumentiert. Es ist so, dass sie mit LKW durch die Wüste Gobi gefahren sind, sie sind mit zehn, zwölf Flugzeugen getrampt, sie haben Tricks angewandt, auch wenn sie unterwegs kontrolliert wurden, also sie waren ja ständig bedroht, aufzufliegen, dass man sie doch irgendwie wieder zurückschickt – viele Abenteuer. Sie haben Menschen kennengelernt in der Mongolei, sie waren in Jurten eingeladen, sie haben China bereist mit dem Schiff, den Jangtsekiang hinunter, sind Bahn gefahren in China, sie standen auf der Chinesischen Mauer, also das ist ein reicher Fundus, aus dem man da erschöpfen könnte.
"Eine Geschichte, die einem Mut macht"
Bürger: Wobei manches dabei auch nach einer Räuberpistole klingt, etwa, wenn die beiden in Ulan Bator einen Piloten kennenlernen, der sagt, sie sollen sich als Freunde ausgeben, einfach aufs Rollfeld kommen, er würde sie dann schon in die Mongolei fliegen und das tatsächlich passiert. Ist nicht erfunden, ja?
Wensierski: Nein, das ist ja das Tolle an dieser Geschichte. Ich finde, das ist ein Buch oder so eine Geschichte, die einem Mut macht, auch solche Dinge zu erleben und zu wagen und sich nicht dauernd zu fragen, oh, klappt das, schaffe ich das? Was könnte passieren? Es ist ein Plädoyer, also auch heute in unserem Leben Dinge zu machen, die auf den ersten Blick anderen vielleicht als unmöglich erscheinen. Und in der Hinsicht ist das Buch wirklich auch für mich eine Sache, die ich ganz wichtig finde, eine Geschichte, die wirklich unbedingt erzählt werden musste.
Bürger: Je weiter sich Jens und Marie von zu Hause entfernen, desto stärker wird bei ihm der Wunsch, eben nicht mehr zurückzukehren – anders bei ihr. Was hält Marie in der DDR?
Wensierski: Das, was viele Menschen in der DDR gehalten hat: die Familie, die Heimat, dass es nicht die Hölle für sie persönlich war. Auch wenn natürlich jeder auch mal über einen Weg in den Westen nachgedacht hat, gab es vieles, was sie da gehalten hat. Das sind zwei unterschiedliche Wege, gehen oder bleiben, diese Auseinandersetzung haben tausende, ja, vielleicht sogar Millionen DDR-Bürger mal geführt. Und hier ist es exemplarisch auch noch mal der Fall gewesen.
Bürger: "Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht", Peter Wensierskis Buch ist bei der Deutschen Verlagsanstalt erschienen, morgen Abend wird er es mit den beiden Protagonisten um 20 Uhr in Berlin Prenzlauer Berg vorstellen, in der Bibliothek am Wasserturm gleich um die Ecke von der Rykestraße, wo die beiden sich damals kennengelernt haben. Herr Wensierski, danke für Ihren Besuch!
Wensierski: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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