David Nicholls: "Sweet Sorrow"

Der magische Sommer der ersten Liebe

06:34 Minuten
Coverabbildung des Romans "Sweet Sorrow" von David Nicholls.
Nicholls stelle die Gefühlswelt eines 16-Jährigen überzeugend da, meint unsere Rezensentin Irene Binal. © Cover: Ullstein-Verlag
Von Irene Binal · 10.02.2020
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Charlie trifft Fran, die seine erste große Liebe wird: Aus einer eher banalen Teenager-Liebesgeschichte macht David Nicholls einen bemerkenswerten Roman. Denn mit feinem Humor und leiser Melancholie beschreibt er darin die vielen Arten der Liebe.
Charlie Lewis ist 16 Jahre alt und weiß nicht, wie es mit ihm weitergehen soll. Gerade hat er seine GCSE-Prüfungen absolviert, die der deutschen mittleren Reife entsprechen. Aber er bezweifelt, dass seine Noten gut genug sind, um studieren zu können. Sein Vater ertränkt seine Depressionen im Alkohol, die Mutter hat die Familie verlassen und ist mit der Schwester zu ihrem neuen Freund gezogen.
So oft er kann, flieht Charlie aus der Wohnung, fährt mit dem Rad durch die Gegend, trifft seine Freunde und sucht nach einer Aufgabe, einem Abenteuer: "Aber allein zu einem Abenteuer aufzubrechen, ist albern, und heroische Prüfungen findet man in der High Street eher selten."

Gefallen am Schauspielen gefunden

Durch seinen leichten, etwas ironischen Ton gelingt es Nicholls überzeugend, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt eines 16-Jährigen zu versetzen. Charlie fühlt sich unfertig, er feilt an seiner Persönlichkeit, ohne zu wissen, wer er eigentlich sein möchte. Dann trifft er ein Mädchen namens Fran Fisher und plötzlich ändert sich alles.
Fran ist in einer studentischen Theatergruppe und sie will nur dann mit Charlie ausgehen, wenn er eine Rolle in Shakespeares "Romeo und Julia" übernimmt. Widerwillig lässt sich Charlie darauf ein, entdeckt aber schließlich, dass ihm die Sache Spaß macht. Und auch mit Fran verbindet ihn bald mehr als nur Freundschaft.
"Weil die erste Liebe unvergesslich ist" lautet der Untertitel des Romans, der ihm ungewollt einen etwas banalen Anstrich gibt und damit bitter unrecht tut. "Sweet Sorrow" ist nicht nur eine Teenager-Liebesgeschichte, sondern auch eine Erzählung vom Erwachsenwerden, von schwierigen Familienkonstellationen, der Faszination des Theaters und den Motiven hinter der Liebe.

Die erste Liebe als kurze, blendende Explosion

"Wenn ich mit Fran Fisher zusammen sein konnte", überlegt Charlie viele Jahre später, "dann konnte ich zu einer besseren Version meiner selbst werden, einer Version von mir, die so vorbildlich sein würde, dass sie praktisch ein neuer Mensch war." In Nicholls' Beschreibung eines kurzen, magischen Sommers schwingt immer etwas Nostalgie mit, die wehmütige Erinnerung an eine scheinbar goldene Zeit.
Diese Erzählweise trägt einen Roman, dessen eigentliche Handlung bei genauer Betrachtung eher dünn ausfällt, ohne große Höhepunkte und mit netten, aber kaum außergewöhnlichen Figuren – finstere Bösewichte sucht man vergebens. Nicholls geht es nicht um aufregende Geschehnisse, sondern um eine ganz bestimmte Stimmung. Und die entsteht durch seine langsame, detailreiche Erzählweise, die zwischen feinem Humor und leiser Melancholie changiert und aus einer eigentlich unspektakulären Liebesgeschichte einen bemerkenswerten Roman macht.
Es ist eine Liebesgeschichte, die, wie Charlie feststellt, viele Arten der Liebe behandelt: "Die familiäre, elterliche Liebe, die beständige, inspirierende Liebe unter Freunden und die kurze, blendend helle Explosion der ersten großen Liebe, die man erst direkt anschauen kann, wenn sie verglüht ist".

David Nicholls: "Sweet Sorrow. Weil die erste Liebe unvergesslich ist"
Aus dem Englischen von Simone Jakob
Ullstein Verlag, Berlin 2019
512 Seiten, 22 Euro

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