Das weite Feld der Ehrkonflikte

Rezensiert von Hazel Rosenstrauch · 23.01.2011
Nicht immer mag man Speitkamp folgen, wenn er den Ehrbegriff dehnt und streckt. Überzeugend aber ist seine These, dass die Berufung auf Ehre oft mit der Verunsicherung bei der Konfrontation mit der Moderne zu tun hat.
Ehrkonflikte sind, mit Fontane und mit Winfried Speitkamp gesprochen, ein weites Feld. Auf diesem weiten Feld und durch alle Jahrhunderte legt der Autor sein analytisches Werkzeug aus, um zu untersuchen, was das überhaupt ist: Ehre. Er greift weit aus, geografisch, zeitlich und hinsichtlich der Bedeutung des Begriffs, der Kämpfe um Anerkennung, Vorstellungen von Tugend und Tapferkeit und Erziehungsideale samt Prügelstrafe einschließt.

Die Bedeutung von "Ehre" und die Art der Austragung von Ehrkonflikten ändert sich je nach Kontext, Speitkamp erläutert das anhand von Beispielen, die den Leser von der griechischen Antike bis zu afrikanischen Stämmen lotst, einschließlich kurzer Zusammenfassungen von Ilias, Bibel, Nibelungenlied und jüngerer Literatur, in der es um Ohrfeigen, Duelle und die Formen des, wie der Autor schreibt, "Gabentauschs" geht: Sei es, dass Leben gegen Ehre getauscht wird oder eine Ohrfeige die Hierarchie wieder herstellt.

Breiten Raum nimmt die Entwicklung und Veränderung der ständischen Ehre in den deutschen Ländern ein. Aus ihr werden spätere Formen von Kampf um Anerkennung und Status abgeleitet: Vor der Zeit staatlichen Gewaltmonopols war

"Der Einzelne ... einem höchst komplexen Regelwerk unterworfen, das ... die Verhältnisse zwischen den Mitgliedern einer Gruppe ... zwischen den Geschlechtern und zwischen den Generationen regelte."

Ehre ist nicht durch Stand oder Geburt gegeben, sie wird – je nach Kultur und Periode - auf unterschiedliche Weise ausgehandelt. Das Ende der Ständegesellschaft hat weder die gewaltsamen und erst recht nicht die symbolischen Kämpfe um Ehre beendet. Das schlägt sich zum Beispiel in Beleidigungsklagen und neuen Tugendkatalogen nieder.

Der Autor zitiert viel juristische und belletristische Literatur, auch Zeitungsnotizen und eigene, zum Teil schon veröffentlichte Studien rund um Ehre und Kränkung unter besonderer Berücksichtigung der für den Mann so wichtigen Ehre der Frauen. Er kommt von Fontane über Karl May und Oswald Spengler zum Mythos von der Entehrung durch den Vertrag von Versailles, ohne den der Erfolg Hitlers nicht zu verstehen sei.

Und er erinnert daran, dass ein Züchtigungsrecht der Lehrherren in der Bundesrepublik erst 1951 abgeschafft wurde. Noch Anfang der 1990er Jahre wurden 80 Prozent der Heranwachsenden körperlich gezüchtigt. Das Gebot gewaltfreier Erziehung hat erst im Jahr 2000 Eingang in das Bürgerlichen Gesetzbuch gefunden.

Mit spürbarem Vergnügen erwähnt Speitkamp Ehrungen, Ehrenämter, Ehrennadeln, Ehrenkreuzen, Ehrenkodizes, die in den Diktaturen besonders blühten, aber auch in der Nachkriegsdemokratie ihre Anhänger finden: Bürgermeister, die Ehrenbürgerschaften verleihen, Vereine, die Mitglieder oder Unternehmen, die Manager ehren - mittels Urkunden oder Bonitätszahlungen. Trotz ausführlicher Aufzählung fehlen erstaunlicherweise all die Ehrungen für Literatur und Kunst und auch die Ehrenkodizes, die sich immer mehr wissenschaftliche Organisationen gegeben haben, um Betrug in ihren eigenen Reihen in Schach zu halten.

Vorstellungen von Ehre, die sich im rasanten Wandel – sei es in Europa oder im Afrika des 19. Jahrhunderts - entwickeln, wurden "der ethische Kitt, der Menschen zusammenhielt". Ein Schnellkursus über Samurais, die Ehre des Fußballers, die Rolle der Ehre beim Völkermord von Ruanda und die Sitte des Trinkgeldes sind weitere Beispiele für die Prägekraft von Ehrvorstellungen quer über den Erdball - wahrlich ein weites Feld, aber bevor der Begriff völlig zerfasert, entpuppen sich die Beispiele als Vorgeschichte für Reflexionen über die Rolle, die Ehre spielt, wenn alte Bindungen zerfallen und die Individuen nichts anderes mehr haben als Zugehörigkeit zu einer Gang oder Gruppe, die noch Status verleihen.

Nicht immer mag man dem Autor folgen, wenn er den Ehrbegriff dehnt und streckt. Überzeugend aber ist seine These, dass die Berufung auf Ehre oft weniger mit gepflegter Tradition als mit Verunsicherung bei der Konfrontation mit der Moderne zu tun hat. Bei einem Ehrenmord, so Speitkamp, gewinnen verunsicherte Brüder oder Väter für einen Moment Souveränität über ihr Schicksal. Das letzte Kapitel fasst - nach Ausflügen über zahm gewordene Männer und die Metamorphose von Helden - zusammen:

"Ehre ist ein Chamäleon, und eigentlich mehr als das: Ständig wechselt sie nicht nur die Farbe und das Aussehen, sondern auch den Inhalt und den Namen. Und doch geht es im Kern um dasselbe. Denn es bleibt als soziale, wenn nicht gar als anthropologische Konstante, dass Menschen nach Ehre streben."

In den Ehrkonflikten geht es – erklärt der Autor - häufig um Gefühle, die in der durchrationalisierten Moderne zu kurz kommen. Es geht um Achtung und Selbstachtung, den Kampf um Anerkennung und Vertrauen. Deshalb sind es oft entwurzelte Einzelne, die sich auf der Suche nach ihrem Platz eine Tradition erfinden. Man muss, ließe sich das Buch zusammenfassen, genau hinsehen und deshalb heißt das letzte und kürzeste Kapitel: "Ein schmaler Grat".

Winfried Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre
Verlag Philipp Reclam junior, Stuttgart 2010
Buchcover "Ohrfeige, Duell und Ehrenmord" von Winfried Speitkamp
Buchcover "Ohrfeige, Duell und Ehrenmord" von Winfried Speitkamp© Philipp Reclam junior