"Das war ja kein Heimatland mehr"

Die Schriftstellerin Irmgard Keun (1910 - 1982) bei Dreharbeiten zur Verfilmung ihres Romans "Nach Mitternacht" in Berlin.
Die Schriftstellerin Irmgard Keun (1910 - 1982) bei Dreharbeiten zur Verfilmung ihres Romans "Nach Mitternacht" in Berlin. © picture alliance / dpa
Von Tomas Fitzel · 10.05.2013
Irmgard Keun war eine moderne, selbstbewusste Frau. Die Verbrennung ihrer Bücher wollte sie sich nicht gefallen lassen und reichte Klage ein. Mit "Gilgi - Eine von uns" sorgte sie für Furore, ihre Werke galten als "Asphaltliteratur". Im Krieg hielt sie sich versteckt. Vergessen und verarmt wurde sie danach schließlich entmündigt und in die Psychiatrie eingewiesen.
Orangeroter Leineneinband, das Format handtaschengroß, geeignet für die Lektüre unterwegs. Auf dem Vorsatzblatt ein Besitzername. Alice aus Berlin-Grünau. Den Nachnamen kann man nicht entziffern. Er wurde gründlich unkenntlich gemacht. Erst übermalt, dann mit Papier zweifach überklebt. Die einstige Besitzerin muss einen guten Grund dafür gehabt haben. Das Buch: Gilgi, eine von uns. Das war der Sensationserfolg von 1931 und machte die bis dahin unbekannte und blutjunge Autorin Irmgard Keun schlagartig berühmt. Selbst die "New York Times" berichtete begeistert und sogar der strenge Kurt Tucholsky.

"Humor wie ein dicker Mann, Grazie wie eine Frau, Herz, Verstand und Gefühl, was wollen sie mehr?"

So erinnert sich Irmgard Keun ein halbes Jahrhundert später an Tucholskys Lob. Nur ein Jahr nach Gilgi schrieb sie ihren zweiten Beststeller: Das kunstseidene Mädchen. Einen noch größeren Erfolg als Gilgi. Vergleichbar heute mit dem von Charlotte Roche oder Helene Hegemann. Und wie diese musste sich Irmgard Keun auch ebenfalls gegen einen Plagiatsvorwurf zur Wehr setzen. "Gilgi - Eine von uns" wurde sofort mit dem aus Metropolis bekannten Stummfilmstar Brigitte Helm verfilmt und in allen Zeitschriften rauf und runter diskutiert:

"Ist Gilgi eine von? Wir diskutieren über Gilgi. Was lehrt uns Gilgi? Frondeurin in menschlichen Bezirken? Nie und nimmer…eine von uns, keine von uns? Die Diskussion um Gilgi geht weiter. Kunst, Kitsch, Leben. Die Diskussion um Gilgi. Die Männer haben das Wort."

Gilgi verkörperte mustergültig den neuen Frauentypus, der nach dem Ersten Weltkrieg die Boulevards der Großstädte eroberte.

"Das Girl, die Garçonne, der Flapper."

Kennzeichen:

"Der Bubikopf, die modische schlanke Linie, der Sportkörper ohne Fett."

"Bezugnehmend auf Ihr Schreiben vom 18. des … einliegend überreichen wir … Die Stenotypistin Gilgi schreibt schnell, sauber und fehlerfrei. Ihre braunen kleinen Hände mit den braven kurznäglig getippten Zeigefingern gehören zu der Maschine und die Maschine gehört zu ihnen."

Dieser Frauentyp ist sexuell emanzipiert und alles andere als romantisch verklärt.

"Gilgi ist ein erfahrenes Mädchen. Sie kennt die Männer und die jeweiligen Wünsche und Nichtwünsche, die sich hinter dem Ton ihrer Stimme, ihren Blicken und Bewegungen verbergen. Wenn ein Mann wie Herr Reuter mit unsicherer Stimme spricht, ist er verliebt, und wenn er verliebt ist, will er etwas. Früher oder später. Bekommt er nicht, was er will, ist er erstaunt, gekränkt und ärgerlich. Gilgi überlegt. Sie hat keine Lust, mit Herrn Reuter ein Verhältnis anzufangen und sie hat keine Lust, sich ihre Stellung bei ihm zu vermurksen."

Vor allem verunsichert dieser Frauentyp den deutschen Mann, besonders wenn er Nazi ist. Als "Gilgi" erschien, hatte längst die kulturelle Gegenreaktion begonnen. Die Dame, die deutsche Frau kehrte in das Feuilleton zurück. Keun galt daher nicht erst seit ’33 als Asphaltliteratin. Vom gefeierten neuen Star am Literaturhimmel zur Emigrantin.

"Das war ja kein Heimatland mehr, da lebte ich ja nur in dauernder Angst, was passiert denn wieder morgen? Haaa die Grenze hinter sich haben. Ade Du mein Heimatland."

Zuvor reichte sie noch Klage gegen die Verbrennung ihrer Bücher ein.

"Der mir entstandene Schaden begrenzt sich keineswegs mit meinen Urheberanteilen aller beschlagnahmten Bestände, sondern ergibt sich aus der erweislichen Tatsache, dass mein Monatseinkommen vor der Beschlagnahme sich auf mehrere tausend Mark belief und infolge der Beschlagnahmung keine hundert Mark mehr beträgt. "

Keun bewarb sich aber gleichzeitig auch um die Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer. Schwer zu sagen, was dreister war. Erst als sie 1936 dort abgelehnt wird, entschließt sie sich für die Emigration nach Holland. Hat nochmals einen Erfolg mit dem Roman Nach Mitternacht, lebt mit dem schwer alkoholkranken Schriftsteller Joseph Roth zusammen, nach dessen Tod und nachdem auch Holland besetzt ist, kehrt sie mitten im Krieg illegal in ihre Heimatstadt Köln zurück und wartet dort das Kriegsende ab.

"Gottseidank, es geht verloren dieser Krieg, der geht verloren, der geht verloren. Und immer mehr Bomben."

Das wirkliche Exil beginnt für Irmgard Keun nach dem Krieg. Im Gegensatz zu anderen Emigranten ist sie zwar nie wirklich ganz vergessen, aber an die alten Erfolge kann sie nicht mehr anknüpfen.

"Ja ich hab mich ja auch nicht bemüht, außerhalb der Vergessenheit zu sein."

Eine Tochter wird geboren. Dann Probleme mit dem Alkohol. Schließlich Psychiatrie. Erst wenige Jahre vor ihrem Tod 1982 wurde sie von der Illustrierten "Stern" wieder entdeckt, ihre Bücher neu aufgelegt.

Bücher von Irmgard Keun:
"Gilgi - eine von uns", Roman. Ullstein Taschenbuch Verlag
"Das kunstseidene Mädchen", Roman. Ullstein Taschenbuch Verlag
"Nach Mitternacht", Roman. Ullstein Taschenbuch Verlag.
"Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen", Roman. Claassen-Verlag.
"D-Zug dritter Klasse", Roman. Claassen-Verlag.
"Ich lebe in einem wilden Wirbel", Briefe an Arnold Strauss 1933-1947. Claassen-Verlag.

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