Das Tor zur Hoffnung

Von Etienne Roeder · 31.05.2013
Viele jüdische Flüchtlinge aus Deutschland flohen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nach Portugal, von wo sie versuchten, nach Amerika zu gelangen. Die meisten von ihnen gingen nach Lissabon. Doch verschollen geglaubte Dokumente zeigen jetzt: Viele von ihnen landeten auch in Porto.
"In den Ländern aus denen ich kam, lagen die Städte nachts schwarz da wie Kohlengruben, und eine Laterne in der Dunkelheit war gefährlicher als die Pest im Mittelalter."

Mit diesen Worten leitete Erich Maria Remarque seinen weltberühmten Roman "Die Nacht von Lissabon" ein. Die dunklen Städte, die er beschrieb, das war das Europa des zwanzigsten Jahrhunderts kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges und die Laterne, das war zu Beginn der vierziger Jahre Portugal. Für zehntausende Flüchtlinge, vornehmlich Juden, stellte Lissabon, die schöne Frau am Tejo, die letzte Hoffnung dar, dem kriegsgeschundenen alten Kontinent doch noch zu entfliehen. Viele der Schicksale aus jener Zeit sind bekannt, nicht zuletzt durch Remarques Romanbearbeitung.

Weitestgehend unbekannt hingegen sind auch heute noch die Umstände, unter denen viele Flüchtlinge Portugal erreichten. Wo kamen sie an, was hatten sie mit sich gebracht und wohin gingen sie danach? Wer nahm sie auf und wie lebten sie, in einer Zeit in der der Mensch nichts mehr war, ein gültiger Pass alles.

Licht ins Dunkel dieser Epoche könnten nun – 70 Jahre nach der Machtergreifung der Nazis - bis heute unentdeckte Dokumente bringen, die in der Synagoge zu Porto schlummern. Denn dort hat Isabel Lopes, die Enkeltochter des Gemeindegründers Kapitän Artur Carlos de Barros Basto, eine kleine liebevolle Ausstellung zu Ehren ihres Großvaters aufgestellt. Geduldig führt sie Besucher in die zweite Etage des imposanten Gotteshauses, in einem kleinen Nebenzimmer hebt sie einen Stapel vergilbter Briefe aus der Vitrine und erzählt:

"Das hier sind ganz interessante Briefe und Karteikarten. Daraus geht hervor, dass viele Menschen hier nach Porto kamen, hier die Namen, woher sie kamen, ihre Nationalität. Sie kamen aus ganz Europa, der hier kam zum Beispiel aus Frankreich, er hat Familie in New York, oder der hier, der ging nach Brasilien. Oder hier… Mexiko… Die meisten gingen allerdings in die USA. Hier steht das Ankunftsdatum und wohin sie sich hier in Porto wenden sollten."

In Porto wurden die Flüchtlinge aus Europa 1940 und 1941 von deutschen Juden empfangen, die in den Flüchtlingsorganisationen in Porto arbeiteten. Sie waren 1933 durch Berufsverbote vor den Nazis geflohen und nach Portugal migriert, wohl wissend, was sie in Deutschland zu erwarten hatten. Zu ihnen zählten Ärzte, Anwälte und Richter, Menschen also, die noch fast unbehelligt mit dem Hausstand im Auto nach Portugal kamen. Doch auch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, mit welcher Verzweiflung sie manchmal ihre Heimat verlassen hatten.

"Sehr geehrter Kapitän, da man unsere Existenz in Deutschland vernichtet hat und uns, wie sie wissen werden, dort keine weiteren Möglichkeiten offenstehen, wären wir ihnen besonders dankbar, wenn Sie, sehr geehrter Kapitän, uns einen Weg zum Aufbau einer neuen Existenz zeigen könnten. Ich empfehle mich Ihnen mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Wertschätzung. Und begrüße Sie als ihr sehr ergebener Rechtsanwalt Alfred Kiefe."

Alfred Kiefe, Rechtsanwalt aus Deutschland, kam schließlich nach Portugal und war nur einer von vielen bis dato unbekannten Helfern in Porto. Von den Flüchtlingen, die nach dem Fall Frankreichs ab 1940 ins Land strömten und lediglich auf der Durchreise in Portugal Station machten, unterschieden sich diese Migranten deutlich. Sie hatten sich beim Gemeindegründer Barros Basto noch handschriftlich vorgestellt um die Möglichkeiten der Niederlassung in Portugal zu erbitten. So schrieb ein Arzt im Juli 1933 aus Köln an Barros Basto:

"Sehr geehrter Herr! Von einem deutschen Bekannten erhielt ich ein ausführliches Exposé, das sich mit der Ansiedlung deutscher Juden in Portugal befasst und das Ihre Tätigkeit besonders hervorhebt. Dies veranlasst mich Ihnen zu schreiben. Ich verliere als Jude in Deutschland meine Stellung und bin daher gezwungen, mit meiner Frau und meinem 5-jährigen Sohn im Ausland eine neue Existenz zu suchen. Ich bin 37 Jahre alt und war Richter am Tribunal in Köln, daneben war ich als Lektor an der Universität in Bonn tätig. Am liebsten würde ich an einer ausländischen Universität habilitieren. Auch meine Frau ist berufstätig und besitzt ausgezeichnete Spezialkenntnisse auf dem Gebiet der Herstellung pharmazeutischer Präparate. Falls sich keine Anstellung finden lässt, hat sie die Absicht, selbst eine kleine Fabrik zu eröffnen. Halten Sie unsere Pläne für aussichtsreich und welche Schritte müssten wir unternehmen? Mit vorzüglicher Hochachtung, Ihr ergebener Dr. Steinberg."

Seit den vierziger Jahren schlummern diese Dokumente im Familienschrank von Lopes, doch erst jetzt beschäftigen sich Historiker mit den bis dato unbekannten Namen. Eine von ihnen ist Isabel Meirinhos, die minutiös jede einzelne Karteikarte der Gestrandeten aus den 1940er Jahren durchforstet und dabei immer wieder ganz erstaunt vor den Zeugnissen jener Zeit sitzt, aus denen die biografischen Details der Flüchtlinge zu ihr sprechen:

"Als ich die Karteikarten das erste Mal zu Gesicht bekam, konnte ich meinen Augen kaum trauen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung davon, dass so viele Leute damals auch in Porto unterkamen. Denn in der Literatur taucht als Zwischenstation für die Flüchtlinge auf ihrem Weg in die Neue Welt immer nur Lissabon auf. Diese Briefe hier belegen jedoch, dass sich die Flüchtlinge auch hier in Porto ganz konkrete Hilfe vom Gemeindepräsidenten Barros Basto erhofften. Sie baten um Arbeitsmöglichkeiten oder versuchten für die Ausreise notwendige Papiere zu erhalten. Einige schrieben ihm sogar aus dem Gefängnis. Die große Mehrzahl ging in Antwerpen, in Belgien, an Bord und kam dann hierher."

Eine dieser Flüchtlinge war die 15-jährige Sonja Flörsheim aus Hamburg. Hier in Porto findet sich in den Karteikarten der Synagoge eine Spur ihrer Biografie.

Meirinhos: "Das hier ist Sonia, Deutsche, alleinstehend. Sie hat ein Visum für Venezuela und Siam. Außerdem steht hier, dass sie einen Onkel hat, in São Paulo, in Brasilien. Und außerdem…Sie ist in Hamburg geboren, wo ihre Eltern noch immer sind, Dr. A. Florsheim."

Ihre Eltern schickten Sonja 1941 aus Hamburg über Antwerpen alleine nach Portugal. Mit dabei hatte sie lediglich das Einverständnis, dass sie mit einem Bekannten der Familie nach Übersee reisen durfte. Und ihre Erinnerung. Die Namen ihrer Eltern und ihrer beiden Schwestern standen seit März 1941 nicht mehr an ihrem Klingelschild Grindelhof 17 in Eimsbüttel. Kurz nach Sonjas Abreise wurden ihre gesamte Familie nach Minsk deportiert und ermordet. Dort, von wo aus ihre Reise über Porto in die Neue Welt begann, säumen jetzt vier Stolpersteine das Pflaster der Straße.
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