Das skandinavische Vorbild

Rezensiert von Dieter Rulff |
In der Debatte um die künftige inhaltliche Positionierung der SPD hat sich auch Umweltminister Sigmar Gabriel zu Wort gemeldet. In seinem Buch "Links neu denken" entwirft er ein "Projekt eines neuen Fortschritts", in dem sich Wachstum, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in Einklang bringen lassen.
Es ist kaum ein Jahr her, dass die SPD ihr neues Programm beschlossen hat, doch der Drang zur grundsätzlichen Positionierung ebbt in der Partei nicht ab. Erst jüngst hat Otmar Schreiner in einem Buch mit dem Titel "Die Gerechtigkeitslücke" schonungslose mit der Agenda 2010 abgerechnet. Es ist eine flammende Anklageschrift, wie sie Oskar Lafontaine nicht schärfer formulieren könnte. Damit hat Schreiner den linken Pol der derzeitigen sozialdemokratischen Selbstreflexion markiert.

Gewissermaßen ihm gegenüber hat sich nun Sigmar Gabriel publizistisch platziert. Der Bundesumweltminister beschreibt in seinem Buch wie eine – so der Untertitel – "Politik für die Mehrheit" auszusehen hat. Dazu muss man – so der Titel – "Links neu denken". Das ist auf den ersten Blick etwas irritierend. Denn zum einen wird selbst unter Sozialdemokraten links und Mehrheit nicht unbedingt als Gleichklang gesehen. Und zum anderen gehört Sigmar Gabriel der Parteirechten an, hat leichte Bindungen zu den Netzwerkern, und ist bislang nicht sonderlich durch Grundüberzeugungen eines gestandenen Linken wie Otmar Schreiner oder Andrea Nahles aufgefallen. Wenn er links neu denkt, dann will er damit zunächst sagen, dass das was diese Linken denken, vor allem aber dass das, was die Partei "Die Linke" denkt, altes linkes Denken ist. Die Agenda 2010, an der diese sich abarbeiten, ist für ihn bereits abgeschlossen. Jetzt gehe es um das nächste Jahrzehnt bis 2020. Entsprechend ist sein Werk gesättigt mit Neuheiten:

Sein Buch ist, so können wir lesen, "die neue sozialdemokratische Analyse", die auf "das Verlangen der Welt nach einem neuen Verständnis von Entwicklung, Wachstum und Fortschritt" und auf "die neuen Herausforderungen der globalen Umweltzerstörung antwortet. Diese Antwort liegt natürlich in einem "Projekt eines neuen Fortschritts", das nach einer "neuen Politik" verlangt, die "eine neue Balance zwischen Wachstum, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit", eine "neue Politik der Leitmärkte" und in der Bildung eine "neue Schulkultur", sprich eine "Schule neuen Typs" hervorbringt. Um das alles zu bewerkstelligen, bedarf es natürlich eines "neuen Parteityps".

Bei soviel Erneuerungsbereitschaft überrascht zunächst, dass Gabriel von einer folgenreichen sozialdemokratischen Innovation überhaupt nichts mehr wissen will. Die "Neue Mitte", jener einst heiß umkämpfte Ort der Schröderschen Regierungspolitik, ist bei ihm als "Marketing-Konzept" verpönt, ein zeitgeschichtliches "Amalgam aus Internet und Börse". An deren Stelle tritt bei ihm die Politik für die Mehrheit. Die Mehrheit, das sind für ihn die Leistungsträger der Gesellschaft.

"Tatsächlich sind es die Facharbeiter und Ingenieure, die Techniker und Meister, die Lehrer und Krankenschwestern, die kleineren und mittleren Unternehmer, die Handwerker und Kulturschaffenden und Dienstleister. Natürlich kann man diese Leistungsträger auch als "Mitte" bezeichnen, nur ist es dann eine sehr breite und heterogene. Treffender ist für mich die Bezeichnung Mehrheit, denn um die handelt es sich und um die geht es."

Schöner hätte es Schröder auch nicht formulieren können. Gabriel hat lediglich ein anderes Etikett für den gleichen sozialen Inhalt gewählt und erweist damit der Linken in der SPD, denen die "Neue Mitte" immer schon suspekt war, seine Referenz. Zugleich macht er allerdings deutlich, dass er deren Hinwendung zu den Armen und Bedürftigen nicht teilt. Sich nur forderungsreich um die Verteilung des Erwirtschafteten zu sorgen, das kennzeichnet für ihn die Haltung der Protest-Linken. Er steht für eine Gestaltungs-Linke. Sein Buch ist den Leistungsträgern gewidmet und will Antworten auf die Fragen geben, wie die nationale Leistungsfähigkeit verbessert und individuelle Leistungsbereitschaft gefördert werden kann. Entsprechend nimmt die Steigerung der Produktivität breiten Raum ein. Wachstum, so schreibt der Umweltminister, ist notwendig und stehe nicht im Widerspruch zur Nachhaltigkeit. Für ihn ist Umweltpolitik vor allem Innovationsförderung, eine Ökonomie die mit Ökologie im Gleichschritt marschiert. Darin bisweilen einen Widerspruch zu erkennen, das überlässt er den Hauptsache-Ökologen von den Grünen.

Gabriel erwartet eine dritte industrielle Revolution und in deren Zentrum stehen Umwelttechnologien. Er hält Vollbeschäftigung für möglich und dafür eine Verbesserung der Arbeitsmarktpolitik für nötig. Nach dänischem Modell will er die Arbeitslosenversicherung in eine Arbeitsversicherung umwandeln, in die Fortbildung, Umschulung und Jobvermittlung integriert sind. Nach schwedischem Modell will er die schulische Bildung ausbauen. Kein gegliedertes Schulsystem mehr, zudem mehr und besser qualifiziertes Personal. Dass die Erfüllung dieser Forderung in Deutschland noch immer an der Hoheit der Bundesländer und deren Finanzknappheit gescheitert ist, ficht ihn nicht an. Das spreche vielmehr für die Gründung einer deutschen Bildungsstiftung, welche die Mittel für alle Bildungseinrichtungen verteilt. Woher die politische Mehrheit für die Gründung einer solchen Stiftung kommen sollt, bleibt vorerst sein Geheimnis.

Gabriel orientiert sich nicht nur in seinen fachpolitischen Positionen an den skandinavischen Ländern. Sie sind ihm vielmehr Blaupause einer erfolgreichen sozialdemokratischen Politik für die Mehrheit unter den widrigen Bedingungen der Globalisierung.

"Tatsächlich haben die wirtschaftlich erfolgreichen, kleinen, stark weltmarktintegrierten skandinavischen Wirtschaften einen international vergleichsweise hohen Anteil des öffentlichen Sektors an der Wertschöpfung. Die damit verbundene Sicherheit für die Mitte macht diese auch zuversichtlicher. Sie ist eher bereit, wirtschaftlich unabdingbaren Wandel zu akzeptieren. Soziale Sicherung, die Status- und Zukunftsangst mildert, wird damit zu einem produktivitätsermöglichenden Faktor. Eine Vielzahl von Arbeiten von modernen Ökonomen hat diesen Zusammenhang zwischen einem Mindestmaß an Gleichheit – oder auch: Gerechtigkeit – und wirtschaftlicher Effizienz belegt. Genau das ist es, was ich als "linke Politik" verstehe: die Gewährleistung sozialer Teilhabe und den Ansporn zu wirtschaftlichem Fortschritt für die große Mehrheit."

Nun hat ebenfalls eine Vielzahl von Arbeiten dargelegt, dass solche Modelle stark in die jeweilige nationale Tradition eingebettet, mithin nicht ohne weiteres übertragbar sind, erst recht nicht in ein Land mit der zwölffachen Einwohnerzahl. Für Gabriels Plädoyer folgenreicher dürfte jedoch der Umstand sein, dass trotz oder vielleicht sogar wegen dieser linken Politik Dänemark und Schweden konservativ regiert werden. Seine Politik für die Mehrheit muss sich erst noch bei Wahlen als eine Politik der Mehrheit erweisen.

Sigmar Gabriel: Links neu denken - Politik für die Mehrheit
Piper Verlag München 2008
Sigmar Gabriel: Links neu denken
Sigmar Gabriel: Links neu denken© Piper Verlag