Das Reisen im Blut

Von Paul Stänner |
Der Engländer John Oldale hat in 30 Jahren an die 90 Länder gesehen. Er lebt inzwischen in Washington. Von dort aus bricht er zu mehrmonatigen Reisen auf. In "Dr. Oldales geografisches Lexikon" erzählt er mit englischem Humor von seinen Eindrücken.
Wir hatten uns in Washington auf der Mall verabredet. Die Mall ist der nationale Schrein für amerikanische Patrioten. Hier steht das tempelartige Monument, aus dem George Washington mit sorgenvoller Miene auf sein Land blickt, hier sind die Denkmäler für die großen Kriege, die Amerika gewonnen oder verloren hat. John Oldale, Dr. John Oldale, war gleich als Engländer zu erkennen, weil er quer über den Rasen lief. Die Amerikaner blieben brav auf den Schotterwegen.
Oldale: "Ich bin mit meiner Frau hier. Sie arbeitet für ein Jahr in der amerikanischen Regierung, sonst arbeitet sie für die britische Regierung. Ich begleite sie, wir haben zwei kleine Kinder und so klappt es sehr gut."

Wir merken schnell, dass wir falsch gewählt haben: Unter den vielen Touristen in patriotischer Aufwallung werden wir kaum Ruhe finden für ein Gespräch und fahren in sein Haus am Rande von Washington. Wir bleiben bei China, woher der Tee stammt.

"Ich hab viel Zeit in China verbracht, noch bevor es ein Modetrend wurde. An vielen Orten war ich der erste westliche Besucher seit dem Zweiten Weltkrieg oder der chinesischen Revolution. Das ganze Kapitel ist gestaltet nach meiner mehrmonatigen Reise durch China, ich wollte die Größe und die gewaltige Geschichte dieses Landes fassen."

Mehr als 30 Jahre lang hat John Oldale Länder bereist. Manchmal mit einem Freund, oft allein und oft unter sehr einfachen Umständen, Geld war knapp. Oft genug war es nur die Zeit, die er als junger Mann reichlich hatte. 1985 war er mehrere Monate in China unterwegs, das Land hat ihn beeindruckt:

"Zum Beispiel, dass dieses Land vor 3000 Jahren schon so entwickelt war, dass Ärzte vom Staat überwacht wurden. Wenn einer ihrer Patienten starb, waren sie gezwungen, eine rote Laterne an der Tür aufhängen. Die Honorare, die sie nehmen durften, wurden bemessen nach der Erfolgsquote im Vorjahr."

Dr. Oldale lässt sich gern beeindrucken. Deswegen reist er so viel. Dr. Oldale ist 48 Jahre alt, hat kurze graue Haare, einen kompakt erscheinenden Kopf und eng stehende Augen. Wir sitzen an seinem Esstisch in Washington, Frau und Kinder sind im Nebenzimmer verschwunden, haben ein Chaos aus Spielzeug und Essgeschirr hinterlassen. An der Wand hängt eine Weltkarte.

"Das muss in den Genen stecken. Ich wollte reisen, da war ich vier oder fünf Jahre alt. Als Kind wollte ich immer nur den Atlas lesen und wenn ich spielte, habe ich mir vorgestellt, wie ich von Land zu Land fliege."

Er hat in den letzten 30 Jahren nahezu 90 Länder bereist und über eine halbe Million Meilen zurückgelegt. Obwohl ein Reisender von Geburt, hat Oldale ganz bodenständig begonnen, mit einem Studium in Exeter und Cambridge.

"Ich habe Chemie studiert, hab meinen Doktor gemacht und bin in die Forschung gegangen. Das war in der Ära von Margret Thatcher, und da gab es in England kein Geld für die Forschung. Stattdessen wollte ich ein Reisebuch schreiben. Ich habe die Uni mit 23 oder 24 Jahren verlassen. Sechs Monate lang bin ich von Kalifornien bis nach Panama gereist durch all diese Länder, die in unterschiedlichen Stadien von Bürgerkriegen waren, um ein Buch über das zu schreiben, was in Onkel Sams Hinterhof vor sich ging."

Oldale sagt, ihn interessieren Gesellschaften, die anders sind als unsere, vor allem Diktaturen und Tyranneien. Er wollte wissen, wie Menschen unter diesen Bedingungen überleben.

Oldale hat die Frau geheiratet, die er 1986 während des Chemiestudiums kennengelernt hat. Sie liebt es, ihn gelegentlich zu begleiten, aber seine mehrmonatigen Reisen macht er allein oder mit zufälligen Bekanntschaften. Oldale war immer unterwegs. Er sammelte Erfahrungen, Eindrücke und Informationen. Und stets hatte er die Idee im Kopf, eines Tages über die Länder dieser Welt zu schreiben.

Sein Buch ist eine Sammlung von Fakten und Informationen, ausgewählt mit einem sehr englischen Sinn für Humor. Oldale erwähnt den Baum der Ténéré, der wie durch ein Wunder mitten in der Wüste von Niger wuchs. Der einzige Baum im Radius von 200 Kilometern, er war sogar auf Landkarten vermerkt. Er wurde von einem außergewöhnlich dämlichen libyschen Lastwagenfahrer umgenietet. Heute steht an dieser Stelle eine Skulptur aus Auspuffrohren. Dr. Oldales Lieblingsgeschichte stammt aus Moldawien:

"Ich habe da eine Sache in Moldawien, die mir völlig unerklärlich ist: Moldawien ist das Zentrum der Welt, wenn es um Todesfälle mit motorisierten Rasenmähern geht. Es sterben in Moldawien mehr Menschen durch motorisierte Rasenmäher als selbst in den USA. Ich habe keine Erklärung dafür, das ist eine bizarre Information, die niemandem nützt, aber sie hat meine Fantasie angeregt."

Vorübergehend sitzt John Oldale in den USA fest. Die Frau muss zur Arbeit in die Regierung, die beiden Jungs, vier und sechs Jahre alt, müssen in den Kindergarten. Trotzdem wurde er kürzlich noch in Albanien gesehen auf der Suche nach byzantinischen Freskos. Er hat weitere Reisen im Kopf und neue Buchprojekte. Vielleicht schreibt er über den Tod – oder über die Schönheit. Auf jeden Fall hat er ein neues Ziel vor sich.


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