Das Musikjahr 2020

Pop braucht die Masse

Eine leere Bühne
Die Bühnen blieben dieses Jahr weitestgehend leer. © imago images / blickwinkel
Von Christoph Reimann · 30.12.2020
2020 war das Jahr der gut gemeinten Livestreams. Ein wirklicher Ersatz für Konzerte waren diese allerdings nicht. Zum Glück haben einige Musikerinnen und Musiker das schwierige Jahr auch für kreativen Output genutzt.
So viele Einblicke in die Wohnzimmer der Popstars gab es noch nie. Aber wollten wir das alles sehen: die Kerzenstumpen auf dem weißen Klavier von Lady Gaga? Oder Norah Jones, Kamera draufgehalten, Ton ganz egal?
Natürlich. Sie meinten es nur gut. Wollten uns unterhalten, als die Welt im Frühjahr zum ersten Mal stillstand. Oder ihren Beitrag leisten zu den großen Corona-Charity-Events. Aber was die vielen Livestreams, mal komplett verwackelt, mal etwas professioneller, vor allem gezeigt haben: Pop braucht die Masse.
Man will doch unter Gleichgesinnten sein, nicht alleine zu Hause vor dem Computer hocken. Aber gut, die allermeisten Konzerte durften eben 2020 nicht stattfinden – und damit hat die ganze Branche nach wie vor zu kämpfen.

Abgesagte Konzerte, rote Zahlen

"Dieses Jahr mussten wir circa 1.500 Veranstaltungen meist verlegen", erzählt Dieter Semmelmann, Gründer von Semmel Concerts, einem der größten deutschen Konzertveranstalter. Rückblickend sagt er:
"Das Jahr 2020 ist natürlich für uns ein katastrophales, verlorenes Jahr. Wir haben weit über 90 Prozent unseres normalen Umsatzes verloren. Wir schließen dieses Jahr mit einem hohen siebenstelligen Verlust ab."

Das Lockdownalbum

So oder so ähnlich geht es vielen. Trotz Coronahilfen von Bund und Ländern. Musikerinnen und Musiker hat das Verbot von Großveranstaltungen besonders hart getroffen. Denn die meisten von ihnen verdienen ihr Geld vor allem auf Tour. Ohne die Möglichkeit, vor anderen zu spielen, ganz auf sich selbst zurückgeworfen, sind viele kreativ geworden und haben ein neues Format erfunden: das Lockdownalbum.
Taylor Swift hat 2020 gleich zwei Alben veröffentlicht, die im Lockdown entstanden sind. Ihre Strategie: mit folkigen, oft schönen Songs über Teenagerliebesduseleien der harten Realität entfliehen.
Anders der Weg, den AnnenMayKantereit gewählt haben. Auf dem Lockdownalbum "12" nennen die Musiker die Dinge beim Namen. Und sie stellen eine Öffentlichkeit her, wenn sie von den Flüchtlingen in Moria singen, die in Vergessenheit zu geraten schienen, als das Virus Europa erreicht hatte.
Man kann von dem Emo-Pop von AnnenMaykantereit halten, was man will. Aber vielleicht waren es gerade Musikerinnen und Musiker von diesem Schlag, die den Begriff Solidarität, der am Anfang der Pandemie von so vielen vollmundig beschworen wurde, mit Inhalt gefüllt haben.

Es gibt nicht mehr die eine Metrik

Bleibt noch zu klären, was für Songs 2020 eigentlich besonders gut ankamen. Spotify-Nutzende aus Deutschland wollten vor allen Dingen den kanadischen RnB-Künstler The Weeknd hören – mit dem Song "Blinding Lights".
Das meistgestreamte Album dagegen, "Treppenhaus", kam von Apache 207. Klar, Deutschrap ist nach wie vor das dominierende Genre. Aber nicht, wenn man sich die tatsächlich verkauften Alben ansieht, also Tonträger eingerechnet. Da sind AC/DC auf Platz eins gelandet:
Klingt wie immer, ist aber das neue Album "Power Up". Die eine große Bestenliste, auch das zeigt das Jahr 2020, gibt es nicht mehr. Stattdessen zeigen die Charts vor allem, dass wir uns alle in unseren Bubbles bewegen.

Nur die Kritik ist sich einig

Und sie zeigen, wer wie Musik konsumiert: Die Jungen streamen, die Älteren kaufen CDs. Und dann gibt es ja auch noch die Kritikerinnen und Kritiker. Die konnten sich in diesem Jahr erstaunlicherweise ziemlich gut auf ein Album einigen: "Fetch The Bolt Cutters" von Fiona Apple.
Apple singt über die Macht der Männer, die sich nehmen, was sie wollen. Über ein System, das die Täter schützt anstatt den Opfern zu helfen. Aber das Album erzählt auch von Selbstbehauptung und Gefährtinnenschaft. "Fetch The Bolt Cutters" von Fiona Apple – zurecht das Kritiker-Album des Jahres.
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