Das Modell Deutschland wird angelsächsischer

Rezensiert von Thomas Meyer |
Das Modell Deutschland, Stolz sozialdemokratischer Kanzler und Würdenträger während vieler Nachkriegsjahrzehnte, Faustpfand der Gewerkschaften, ist seit Längerem in Auflösung begriffen.
Das ist der durch gut fundierte empirische Einzelanalysen belegte Befund in Streecks aufschlussreicher Studie. Wohin man auch blickt im verzweigten und unübersichtlichen Bereich der politischen Ökonomie – von den industriellen Beziehungen bis zur Unternehmensführung und Sozialpolitik –überall geht der Entwicklungstrend weg von der organisierten Kooperation hin zur Desorganisation, zielgerichtet und stetig.

Das viel gepriesene Rheinische Modell wird angelsächsischer. Ein Verlust für die Sozialen Demokratie ohne Zweifel. Und, wie der Autor argumentiert, entgegen der ideologischen Begleitmusik dieser stillen Mutation, durchaus kein Gewinn für die ökonomische Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit in der Globalisierung. Warum dann das Ganze?
Hier wird der Autor grundsätzlich in höchst informativer und das wissenschaftlich und politische Nachdenken gleichermaßen beflügelnden Weise. Treibende Kraft ist weder die neo-liberale Welle der letzten drei Jahrzehnte, noch der ökonomische Wettbewerbszwang aus den entgrenzten Weltmärkten. Vielmehr waltet hier ein elementares Gesetz kapitalistisch verfasster Wirtschaften, dem der ungarisch- britische Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi schon in seiner Interpretation der Weltwirtschaftskrise und ihrer politischen Folgen vor mehr als 60 Jahren auf die Spur gekommen war.

Die im gesellschaftlichen Gesamtinteresse politisch durchgesetzten sozialen und regulativen Errungenschaften der sozialen Demokratie gegen die bloßen Gesetze des Marktes sind historisch nie gesichert. Die Märkte und ihre Akteure, voran die Großunternehmer mit ihren Verbänden, halten ihren Gegendruck gegen Regulation und Sozialstaat immer aufrecht, stets auf der Suche nach Schlupflöchern und Umgehungswegen. Sobald dann an irgendeiner Stelle tatsächlich der Damm bricht, etwa bei der Schwächung und Umgehung von Tarifverträgen, der Aufkündigung der Loyalität von Unternehmern gegenüber ihren Verbänden oder ihrer Bereitschaft zur Kooperation mit Regierungen und Gewerkschaften, setzt –soweit das profitabel erscheint–der Markt unbarmherzig nach und verallgemeinert im Handumdrehen Handlungsstrategien, die zunächst nur als Vorpreschen Einzelner vorkamen. So entsteht ganz ohne Masterplan allmählich ein Paradigmenwechsel in der polit-ökonomischen Verfassung des Landes. Die Einbettung der Märkte in gesellschaftliche Verantwortung schwindet.

Schlussfolgerung des Autors im Rückblick auf die bisherige Geschichte des modernen Kapitalismus: Die Gesellschaft wird sich diese Niederlage auf Dauer nicht gefallen lassen. Ungleichheit und Unsicherheit, die mit ihr verbunden sind, verlangen nach Rückkehr zu Regulierung und sozialer Einbettung der Märkte. Dass die Gesellschaft in dieser Hinsicht nicht ruhen wird, scheint Streeck so gut wie sicher, wie ihr das in dieser neuen historischen Runde diesmal gelingen kann, aber gänzlich offen. Man müsse abwarten.

Wirklich? Der Rezensent meldet seinen Zweifel an. Ein breiterer, vergleichender Ausblick auf Nachbarländer, denen die Sicherung der sozialen und regulativen Einbettung der Märkte besser gelang, die skandinavischen voran, enthält doch genügen Hinweise, wie es gehen kann. Die sozialen und politischen Energien dafür hat der Protest gegen die wachsende Ungleichheit und Unsicherheit auch bei uns jedenfalls schon gesammelt.


Wolfgang Streeck: „Re-Forming Capitalism. Institutional Change in the German Political Economy“
Oxford University Press, 2009
297 Seiten