Das Mädchen Madla

Rezensiert von Richard Szklorz |
Erst im Erwachsenenalter erfuhr Madeleine Albright die wahre Geschichte ihrer Familie: Ihre Großeltern und weitere Verwandte wurden von den Nazis ermordet. Was andere in eine Schockstarre versetzt hätte, arbeitet die US-Außenministerin a.D. mit großem weltpolitischen Hintergrundwissen in ihren Erinnerungen auf.
Im Alter von 59 Jahren musste Madeleine Albright erfahren, dass ihre Eltern während des Zweiten Weltkrieges im britischen Exil zum Katholizismus übergetreten waren. Weitere Recherchen ergaben, dass drei ihrer Großeltern und eine Reihe weiterer naher Familienangehöriger, die in der besetzten Tschechoslowakei zurückgeblieben waren, Opfer der Schoah geworden sind. Bis in die letzte Konsequenz gedacht, wäre auch sie, die 1937 in Prag Geborene, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ermordet worden, hätten die Eltern es im allerletzten Moment nicht geschafft, mit ihr zu fliehen.

Dass ihr seltsamerweise nie Fragen zur Herkunft ihrer Familie aufkamen, zumal es einige Ungereimtheiten bei genauerem Betrachten gegeben haben könnte, illustriert Albrights Bericht über ihren Besuch der ehemaligen Pinkas-Synagoge, heute Gedenkstätte.

"Der emotionalste Moment war für mich der Besuch der Prager Pinkas-Synagoge, wo unter 80.000 Namen, die man dort zur Erinnerung an die Opfer der Schoah auf die Wände geschrieben hatte, auch jene meiner Familienangehörigen stehen. Ich war zuvor bereits in der Synagoge gewesen, war aber (da ich dazu keinen Anlass gehabt hatte) nicht auf die Idee gekommen, hier nach Namen von Angehörigen zu suchen."

Alle Recherchen über den Übertritt der Eltern und über die Gründe ihres lebenslangen Schweigens, auch die Suche im umfangreichen Nachlass des Vaters, ergaben wenig Erhellendes.

Ein beeindruckendes Panorama der Kriegszeit
Statt sich mit weiteren Spekulationen aufzuhalten, wendet sich Albright dem Land ihrer Herkunft zu. Als wäre es ihre patriotische Pflicht, will sie nun dieses kleine Land von Grund auf erklären, wobei sie sich zeitweilig im Pathos tschechisch-nationalistischer Mythen aus der Zeit der Spätromantik verstrickt, bevor sie sich wieder auf das eigene Terrain der Zeitgeschichte zurück begibt.

Dabei kommt ihr das Wissen der Außenpolitikerin zugute. Wie eine erfahrene Schachspielerin, die eine komplizierte Schachpartie beobachtet, bewertet sie die Entscheidungen der damaligen Größen der Weltpolitik und entfaltet auf 500 Seiten ein beeindruckendes, zeitgeschichtliches Panorama der Kriegszeit.

Ihr nachgeholtes Wissen über ihre in der Tschechoslowakei verbliebenen Familienangehörigen ermöglicht ihr, den immer grausamer werdenden Albtraum zu schildern, der infolge des Hitlerschen Eroberungszuges auf die jüdische Bevölkerung des "Protektorats Böhmen und Mähren" niederging.

Bevor sich alle Fluchtwege schlossen, gab es in den Monaten vor Kriegsausbruch für einige hundert Kinder die Möglichkeiten, mit Erlaubnis der Nazibehörden zu entkommen. Zwei Züge mit jüdischen Kindern konnten Prag in Richtung England verlassen. Zurückgeblieben sind die Eltern. Neben Albrights Cousine Dáša, die das lebensrettende Exil erreichte, stand auch Dášas jüngere Schwester Milena auf der Fahrgastliste. Sie kam dennoch nicht an, denn:

"Ihre Eltern hatten es sich in letzter Minute anders überlegt, denn sie meinten Milena sei noch zu jung. Viele Kinder, die jünger als Milena waren, hatten in dem Zug aus Prag gesessen. Die tragische Ironie der Episode ist, dass meine jüngere Cousine nicht wegen der Gleichgültigkeit ihrer Eltern ein kurzes Leben hatte, sondern wegen des starken Wunsches, sie zu beschützen."

Mit Empathie berichtet Albright über die komplizierte und bedrückende Situation der tschechischen Bevölkerung, die sich einem Besatzungsregime zu fügen hatte, das nach dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche funktionierte und das Industriepotenzial des Landes effizient für den Krieg nutzte.

Bereits 1940 spielten tschechische Panzer eine bedeutende Rolle bei der deutschen Eroberung Westeuropas. Damals kein Ruhmesblatt für die Vertreter des tschechoslowakischen Exils:

"Beneš, der selten seine Wut offen zeigte, wies darauf hin, dass gut ein Drittel der deutschen Panzer, die nach Frankreich gerollt waren, in den Škoda-Werken gebaut worden waren, die inzwischen Munition für den Feind herstellten."

Anekdoten reichern bekannte Fakten an
In ihrer Schilderung einzelner Etappen des Zweiten Weltkrieges bewegt sich Madeleine Albright auf erforschtem Gebiet. Auch da, wo sie die aussichtslose Lage beschreibt, der sich Präsident Beneš während der Sudetenkrise ausgesetzt sah oder sein quasi vorprogrammiertes Scheitern gegenüber dem totalen Machtstreben der tschechischen Kommunisten nach dem gewonnenen Krieg schildert.

Auch über die Zustände im Konzentrationslager Theresienstadt, die Albright ausführlich schildert, um sich beinah im Stil eines Tatsachenromans dem Schicksal ihrer dorthin verschleppten Angehörigen zu nähern, sind eine Reihe Bücher geschrieben worden.

Dennoch liegt hier keineswegs ein überflüssiges Buch vor. Die Vielzahl anekdotischer Schilderungen über Akteure der hohen Politik und Diplomatie oder Helden des Widerstandes, die im Kampf gegen die Nazis nicht weniger als ihr Leben opferten, macht das Werk zu einer fesselnden Lektüre.

So gesehen ist Albrights Buch nicht nur eine Darstellung der Zeitgeschichte, bereichert durch persönliche Lebensberichte und ihre besondere "Prager" politische Perspektive.

Albright bringt sich nicht nur mit ihrem scharfen Intellekt ein. Sie ruft die entrückte Emotion des kleinen Mädchens Madla wach, das sich erinnert, die Tragweite der damaligen Erschütterungen jedoch erst jetzt begreifen kann, da ihr das wichtige, so lange fehlende Versatzstück ihrer Herkunft zurückgegeben wurde.

Das Buch ist ein Bericht über eine komplizierte Identität, die Madeleine Albright in Interviews manchmal zu Äußerungen hinreißt, sie sei getauft, besuche Gottesdienste der Episkopalkirche, sei aber gleichzeitig Jüdin. Aussagen, die bei so manchem Rabbiner und Pfarrer Stirnrunzeln verursachen dürften, über das sie sich aber als erfahrene "Madam Secretary", die die Widersprüchlichkeit der Welt kennengelernt hat, souverän hinwegsetzen kann.

Madeleine Albright: Winter in Prag. Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz
Siedler-Verlag, München
400 Seiten, 24,99 Euro