"Mémorial des Déportations" in Marseille

Eine Gedenkstätte erinnert an Nazi-Gräuel

09:27 Minuten
Blick auf eine zerstörte Straße nach dem Abriss bzw. Sprengung des alten Hafen-viertels von Marseille durch Einheiten der deutschen Wehrmacht im Februar 1943, nach Großrazzien gegen Juden und Emigranten.
1943 zerstörte die deutsche Wehrmacht den Hafen von Marseille. Dem waren Großrazzien gegen Juden und Emigranten vorausgegangen. © picture alliance / akg-images / Paul Almasy
Von Peter Kaiser · 18.11.2022
Audio herunterladen
Im Dezember 2019 wurde die Gedenkstätte der Opfer der Deportationen, das „Mémorial des Déportations“ am Hafen in Marseille eröffnet. Sie erinnert an die rund 4000 Menschen, die im Jahr 1943 deportiert oder von der Wehrmacht ermordet wurden.
Die südfranzösische Hafenstadt Marseille in der Region Provence-Alpes-Cote d`Azur ist mit über 900.000 Einwohnern Frankreichs zweitgrößte Stadt nach Paris, und zugleich die landesälteste Stadt. Im Jahr 2013 war Marseille Europäische Kulturhauptstadt.
Der alte Marseiller Hafen, Vieux Port, erstreckt sich entlang des belebten Yachthafens. Bekannt ist der Hafen auch für die Fischrestaurants entlang des Kais, in denen die köstliche Bouillabaisse, das provencalische Fischgericht, serviert wird.
Schlendert man an den pittoresken Hotels, den Bars, Cafés und Restaurants vorbei, erreicht man den Place D`Armes am Quai du Port 1. Hier befindet sich das Mémorial des Deportations.  

Zwischen Nazi-Besetzung und Resistance

"Das ist hier kein Museum, es ist ein Mémorial", erzählt die Direktorin Laurence Garcon ihr Haus. Es "wurde zur Erinnerung geschaffen an die Opfer der Nazi-Gräuel und Verbrechen. Aber natürlich widmet sich das Mémorial auch der Geschichte Marseilles, denn Marseille ist auch ein Ort vielfältigster Ereignisse. So verhalf Marseille als Hafenstadt einer Menge Leute zur Flucht. Auch die Resistance gegen die Besetzung war hier in Marseille organisiert."
Und sie erzählt über die Geschichte der Stadt: "Seit 1933 kamen tausende Flüchtlinge, meist Gegner der faschistischen Regime in Deutschland und Italien, nach Marseille. Die Hafenstadt war erster Anlaufpunkt, Zuflucht und Durchgangsstation auf dem von vielen erhofften Weg nach Übersee. Die Bedingungen verschlechterten sich insbesondere nach der deutschen Invasion in Frankreich und unter der Vichy-Regierung, die Ausländer und Juden stärker kontrollierte, teilweise internierte."

Die Deportationen 1943

Im Dezember des Jahres 2019 wurde das Mémorial des Deportations eröffnet. Gleich nach der Eröffnung war dann auch wieder Schluss - die Corona-Pandemie hatte Marseille erreicht. Jetzt kommen so an die 300 Besucher am Wochenende. Die meisten von ihnen, sagt die Direktorin, reagieren ähnlich auf die Informationen, den Film, die biografischen interaktiven Elemente des Mémorial:
"Die Hauptemotion der Besucher hier ist Entsetzen über das, was hier passierte. Aber es sind nicht nur die Besucher Marseilles, die hierherkommen. Auch die Einwohner der Stadt kommen und sind bestürzt über die Zerstörungen, die es hier gegeben hat durch die Nazis im Januar 1943. Ebenso wie die Touristen wissen auch viele Einwohner nicht viel von den Zerstörungen."

Das nördlich des alten Hafens gelegene Viertel galt der Wehrmacht als Hochburg Krimineller, Schieber, Widerständler und somit als Sicherheitsrisiko. Reichsführer-SS Heinrich Himmler ordnete Anfang Januar 1943 die Zerstörung der Gebäude und die Deportation der Bevölkerung an. Wehrmacht, SS und Vichy-Polizei arbeiteten zusammen. Am 22. und 23. Januar 1943 führten französische Polizeikräfte eine Massenrazzia in Marseille durch. 40.000 Menschen wurden überprüft, 6000 zeitweilig festgenommen, 1642 von ihnen wurden in das Internierungslager Compiègne transportiert, viele dann in das KZ Sachsenhausen. 780 Juden kamen in das KZ Auschwitz.

Aus: „Gedenkorte Europas“ - Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945, Frankfurt a./Main

Dass die Besucher hier mitunter ihre Emotionen wie Wut, Abscheu und Entsetzen kaum bändigen können, ist nicht unerwartet, meint die Direktorin Garcon, die früher als Psychologin arbeitete: „Wir haben das vorausgesehen. Es gibt pädagogische Aktionen, aber das Mémorial ist erst drei Jahre alt. Es gibt pädagogische Aktionen in den Schulen, dann werden hier Konferenzen organisiert, und generell: diese Zeit in Fragen aufzubereiten, so dass die Besucher das für sich während ihres Besuches hier aufnehmen können. Es gilt das Fazit darzulegen, dass es auch für Besucher der jüngeren Generation passt.“

Antisemitismus in Frankreich

Und doch ist der Satz von Bertolt Brecht vom noch immer fruchtbaren Schoß gültig, der auch neuen Faschismus gebären könnte - etwa, wenn man nichts mehr von der Shoah hören möchte. "Das gibt es auch bei uns in Frankreich", sagt die in Marseille lebende Autorin und Historikerin Renèe Dray Bensousan.
"Die Leute sagen, lasst das hinter uns" und "wollen davon nichts mehr hören. Gegen dieses Denken gibt es verschiedene Anstrengungen. Etwa Treffen von Kindern mit Opfern, und Kindern, deren Eltern diese Verbrechen ausführten. Wenn sie sich treffen, besteht die Möglichkeit eine emotionale Lösung zu erreichen, um darüber hinwegzukommen.“ 

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Dass es nicht viele antisemitische Attacken in Marseille gibt, liege vor allem daran, dass es in Marseille eine Vereinigung namens “Marseille Esperance“ gibt, sagt Renée Dray Bensousan. "Sie wird von den höchsten Würdenträgern aller Religionen getragen, und dem Bürgermeister. Alle kommen zusammen, wenn es die Situation erfordert. Die Vereinigung versucht dann, die Situation mit den jeweiligen Gemeinden zu entschärfen.“
Doch kann das Mémorial des Deportations eine Art Gegengewicht zu den vielfältigsten rechten und in Frankreich sehr aktiven Strömungen sein?
Dies sei "das ultimative Ziel", antwortet Bensousan. "Ich denke, wir tragen zur Erinnerung bei, zum Lernen, damit Schüler etwas über das hier wissen. Aber wir sind nicht die einzigen in der Region. Nah an der Provence ist das „Camp de Milles“, die eine sehr gute Arbeit mit Schülern und Studenten machen. Ich denke, das alles trägt dazu bei, aber ich glaube dennoch nicht, dass das genug ist."

Sicherheitskräfte rund um die Synagoge

Auch der Grand Rabbi von Marseille glaubt das nicht. Seine Gemeinde zählt 75.000 Mitglieder.
"Wir sind die größte jüdische Community nach Israel. Die aktuelle Situation entwickelt sich anhand der verschiedensten Ereignisse im Mittleren Osten und in der Welt. Zum Beispiel, wenn in Gaza etwas geschieht, kann man das hier in der Stadt sofort spüren. Hier in Marseille gibt es auch eine große muslimische Community, und einige können all das missverstehen. Wir setzen dann Sicherheitskräfte rund um die Synagoge, der Schule und den verschiedensten jüdischen Einrichtungen ein.“
Sorgenvoll blickt Direktorin Laurence Garcon in die nahe Zukunft. Auch in Marseille steigen die Coronazahlen aktuell wieder an. Gerade wird über einen neuen Lockdown in der Hafenstadt diskutiert. Das macht es für die Gedenkstätte am Hafen nicht leicht. „Natürlich besteht das Hauptanliegen des Mémorial in seiner Weiterentwicklung, und dass darüber gesprochen und gelesen wird. Aber natürlich gilt das auch für Wanderausstellungen, gerade haben wir eine Wanderausstellung – zum Beispiel - über das Image von Marseille."
Mehr zum Thema