Judenverfolgung in Frankreich

Das dunkelste Kapitel der französischen Vergangenheit

06:47 Minuten
Skulptur von zwei Erwachsenen und drei Kindern, die sehr niedergeschlagen am Boden sitzen
Mahnmal zur Erinnerung an Rafle du Vél d'Hiv geschaffen vom Bildhauer Walter Spitzer. © Gettyimages / Francois Goudier
Von Léonardo Kahn · 13.07.2022
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Vor 80 Jahren fand in Paris mit das größte Verbrechen in der Geschichte des Landes statt – die sogenannte Rafle du Vél d'Hiv. Mehr als 13.000 Juden wurden damals verhaftet. Bis heute wird über die Kollaboration des Vichy-Regimes mit NS-Deutschland heftig debattiert.
„In dem Haus, wo ich wohnte, lebten vier jüdische Familien, alle wurden verhaftet und niemand kam zurück. Weder der Vater, noch die Mutter, noch der Bruder, noch die Schwester. Von dem ganzen Gebäude haben nur meine Schwester und ich überlebt.“
Paris, 16. Juli 1942: Arlette Testyler, Tochter eines jüdischen Pelzhändlers ist damals neun Jahre alt. Ihr wurde damals schon durch die antisemitischen Gesetze des Vichy-Regimes das Spielen mit ihren nichtjüdischen Nachbarn untersagt, sie durfte erst kurz vor Ladenschluss einkaufen und musste einen Judenstern tragen. Tagtäglich erlebte sie Demütigungen.
„Ich sah jeden Tag dieses Plakat: Der Park ist für Hunde verboten. Und von einem Tag auf den anderen sehe ich: Für Juden und Hunde verboten. Ich war damals achteinhalb Jahre alt. Für mich war das das erste traumatische Erlebnis.“

Man war doch im Land der Menschenrechte

Trotz klarer Segregation ahnte ihre Familie nichts von den Deportationsplänen. Am 16. Juli 1942 sollten in Paris 22.000 ausländische Juden festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert werden. Davon sind knapp 10.000 vorzeitig geflohen – das Gerücht einer Massenfestnahme sprach sich herum.
Doch als die französische Polizei um 4 Uhr morgens bei Arlettes Familien anklopfte, öffnete ihre Mutter ahnungslos die Tür. Obwohl ihr Mann ein Jahr zuvor verhaftet und abgeschoben wurde, vertraute das polnische Paar den Behörden. Viele Juden sind damals aus Osteuropa von den Pogromen geflohen. Arlette Testyler erinnert sich an die letzten Worte ihres Vaters.
„Er sagte zu mir, er habe Frankreich ausgesucht, das Land der Menschenrechte. Ich war damals acht Jahre und wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Ich habe es verstanden, als er abgeschoben wurde. Seine letzten Worte waren: Im Land der humanistischen Denker wie Voltaire, Zola und Rousseau wird man mir nichts antun.“

„Menschen, die sich vom Velodrom stürzten"

1942 wurde ihr Vater, Abraham Reiman, in Auschwitz umgebracht.
13.000 Juden wurden im Morgengrauen verhaftet, darunter 4115 Kinder. Sie und ihre Mutter und Schwester wurden von der französischen Polizei mit Bussen zum Velodrom in der Nähe des Eiffelturms gebracht und dort zwei Tage festgehalten – ohne Essen, ohne Wasser, ohne Toilette. War sie sich damals mit neun Jahren bewusst, was dort vor sich ging? Auf jeden Fall, versichert die 89-jährige Zeitzeugin.
„Ich sah Menschen, die sich vom Velodrom stürzten. Ich sage zu meiner Mutter, was ist da los, was ist da los? Sie sagt mir: ´Nichts, nur Wäsche, die herunterfällt.`“

Nur wenige überlebten die Shoah

Weil sie mal „musste“, ging sie mit einem Nachbarn zum Rand des Velodroms. Dort sah sie dann, was wirklich geschah.
„Dieser Gestank liegt mir in der Nase. Selbst wenn ich mit Ihnen spreche, rieche ich ihn. Ich gehe also auf die Toilette und sehe Menschen, die gegen die Wand pinkeln, andere, die sich mit einer Jacke zudecken und sehe Blut, überall ist Blut. Und ich fange an zu schreien, mache mir in die Hose und brülle: ´Sie bringen alle um, Sie bringen alle um.`"
Fast alle werden vom Velodrome d‘Hiver zu einem Transitlager gebracht und von dort nach Auschwitz deportiert. Nur wenige kehren nach dem Krieg zurück. Arlette Testyler erzählt, sie und ihre Schwester Madeleine hätten unfassbar viel Mazal gehabt. Beide konnten aus dem Zugwaggon, mit dem sie deportiert wurden, herausklettern und kamen bei einer französischen Familie unter. Sie sind zwei der acht noch lebenden Zeitzeugen, die das dunkelste Kapitel der französischen Vergangenheit miterlebt haben.
70eme anniversaire de la rafle du Vel d hiv
Erst der französische Präsident Jacques Chirac, hier einer seiner Nachfolger Francois Hollande am jüdischen Denkmal in Paris am 22. Juli 2012, erkannte offiziell die Mitschuld Frankreichs am Massenmord an der jüdischen Bevölkerung an. © picture alliance / abaca
Dennoch mussten sie bis 1995 warten, bis dass ein Präsident die Mitschuld Frankreichs an der Shoah anerkannte. So Jacques Chirac vor knapp 30 Jahren an der Gedenkzeremonie am Velodromplatz:
„Diese schwarzen Stunden beflecken für immer unsere Geschichte und sind eine Beleidigung für unsere Traditionen. Ja, der verbrecherische Wahnsinn der Besatzungsmacht wurde von Franzosen und vom französischen Staat unterstützt.“
Heute noch versuchen Rechtsextremisten wie Éric Zemmour, die Deportation von insgesamt 75.000 Juden zu rechtfertigen. Sie behaupten, die Vichy-Regierung habe bloß ausländische Juden an Deutschland ausgeliefert, um einheimische Juden zu schützen. Die Verhaftung der neunjährigen Arlette Testyler, eine Jüdin, die in Paris zur Welt kam und daher französische Staatsbürgerin ist, offenbart den Zynismus hinter solchen Falschaussagen.

Der französische "Historikerstreit"

Aber neben Revisionisten gibt es auch eine wissenschaftliche Debatte rund um die Kollektivschuld der Franzosen – eine Art französischer Historikerstreit. Wobei der ehemalige Präsident Jacques Chirac von einem kollektiven Fehler spricht, indem er sich auf den US-amerikanischen Historiker Robert Paxton bezieht, meiden wiederum andere diesen Begriff. So auch der jüdische Zeitzeuge und federführende Historiker Serge Klarsfeld.
„Robert Paxton und ich sind uns seit 40 Jahren uneinig. Er konzentriert sich auf den französischen Antisemitismus, welcher ein Viertel der jüdischen Bevölkerung umbrachte. Meine Arbeit handelt jedoch über die drei Viertel der Juden, die überlebt haben, und das auch dank der Franzosen.“
Tragen Franzosen eine Kollektivschuld an die Shoah oder ist nur NS-Deutschland dafür verantwortlich? Auch 80 Jahre nach der Rafle du Vel d’Hiv wird diese Frage innerhalb der Gesellschaft unterschiedlich beantwortet.

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