Das Kind in der Halacha

Von Heinz-Peter Katlewski |
Die meisten jüdischen Kinder in Deutschland lernen ihre Tradition erst mit zwölf oder 13 Jahren kennen - wenn sie religionsmündig werden und ihre Bar- oder Bat Mizwa feiern. Was sagt das jüdische Religionsgesetz, die Halacha, über die Rechte und Pflichte von kleineren Kindern?
"Natürlich sehen wir Kinder und Kindheit ganz anders als zuvor. Im Talmud und auch in der späteren Literatur wird nichts darüber gesagt. Aber jetzt haben wir nicht nur Kinder, sondern auch Teenager, die sind bestimmt nicht erwachsen, die sind älter als 13..."

... und damit längst über das Alter hinaus, das einst im zwölften Jahrhundert von dem jüdischen Gelehrten Maimonides für die Volljährigkeit von Jungen festgelegt wurde, meint der in Augsburg geborene amerikanische Rabbiner Walter Jacob. Mädchen entließ Maimonides schon ein Jahr früher, mit zwölf, ins Erwachsenenstadium. Und soweit wir wissen, waren die Menschen damals auch vergleichsweise erwachsen, gingen vielfach schon einem Broterwerb nach und gründeten Familien. Vor Maimonides war das Alter weniger wichtig zur Beurteilung, ob jemand noch ein Kind oder schon erwachsen ist, hat die aus der Ukraine stammende Oldenburger Rabbinerin Alina Treiger herausgefunden:

"In den früheren Quellen von Mischna und Talmud wird ein Erwachsener durch verschiedene Kriterien definiert: Das Alter von Bar-/Bat Mizwa kommt in früheren Quellen überhaupt nicht vor. Und mit zwölf und 13 Jahren wird nur über körperliche Veränderungen gesprochen und die Fähigkeit, an Jom Kippur fasten zu können. Es wird nicht gesagt, dass das Kind ab dem Alter schon ein Erwachsener oder eine selbstständige Person ist. Und es gibt eine zusätzliche Definition von Selbstständigkeit: Wenn ein Mann am Tisch seines Vaters sitzt, ist er noch ein Kind. Wenn ein Mann schon ein eigenes Haus hat, und er ist noch ein Kind, aber er ist schon selbstständig, ist er schon groß."

Die Tradition hat Maimonides´Festlegungen übernommen und eingefroren: Bis heute werden junge jüdische Männer und Frauen mit dreizehn und 12 Bar oder Bat Mizwa, Sohn oder Tochter des Gebots. Im traditionell religiösen Sinne sind sie ab diesem Alter dazu verpflichtet, sich an die 613 Gebote der Tora zu halten und danach zu leben. Rabbiner Walter Jacob zum Problem des tatsächlichen Erwachsenseins heute:

"In Amerika und vielen anderen Ländern von Europa arbeitet niemand wirklich in seinem Fach bis er 25 oder 30 ist. Wenn man daran denkt: die meisten Leute waren, wenn sie 30 Jahre alt waren, schon alt. Jetzt fangen sie gerade erst an."

Diese heute bis weit ins Erwachsenenalter verlängerte Kindheit führt in der Praxis dazu, dass junge Juden sehr spät den Bräuchen, Ritualen und Geboten des Judentums begegnen - wenn überhaupt. Oft erst, wenn sie sich auf ihre Bar- oder Bat-Mizwa-Zeremonie, ihre religiöse Volljährigkeit vorbereiten. Vor allem hier in Deutschland mit den vielen Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, die wenig oder kaum Erfahrungen mit dem Judentum als Religion haben. Aber selbst dort, wo die Tradition den Eltern wichtig ist, vermeiden sie in der Regel, die Kinder in die Synagoge mitzunehmen, weil sie sich dort langweilen und Unruhe in den Gottesdienst bringen könnten. Rabbinerin Alina Treiger hat sich damit auseinandergesetzt und dazu auch Quellen der jüdischen Überlieferung wie den Talmud und damit verwandte Texte studiert.

"Da sieht man in den Quellen, dass die Kinder vom kleinsten Alter ab, schon zu der Gemeinschaft gehörten, in der Sukka sitzen, Pessach Mazza Maror essen. Das kann in familiärem Kreis passieren, dass kann auch im gemeinschaftlichen Kreis passieren. Und das ist das Alter, wo die Kinder aufnehmen. Und aus der pädagogischen Sicht, alles was man bis Fünf nicht gemacht hat, das ist verlorene Zeit."

In diesen ersten Lebensjahren erfolgen die wesentlichen Prägungen. In der Sukka sitzen, der Laubhütte, zu Pessach Mazza mit Bitterkraut essen - das müssen Kinder bis zur jüdischen Volljährigkeit offiziell nicht. Keines der Gebote müssen sie auf sich nehmen und sie müssen eben auch nicht in die Synagoge kommen. Aber wenn sie nicht schon als kleine Kinder an dieser religiösen Kultur teilhaben, fehlt ihnen das Selbstverständliche, das Vertraute, die Klänge, die Sprache und der Geschmack jüdischen Lebens. Das eine Jahr des Lernens zur Vorbereitung auf die Bar- oder Bat Mizwa tendiert dann dazu, äußerlich zu bleiben und nur dazu zu dienen, ein großes Familienfest zu veranstalten. Rabbinerin Treiger will, das Kinder schon vom Kleinkindalter an die Gebote spielerisch kennen lernen und einüben und auch regelmäßig an Gottesdiensten mitwirken. Dazu will sie in Oldenburg spezielle Kinder- und Familiengottesdienste einführen:

"So, wie es auch in der Tradition vorgesehen ist, dass Kinder Psalmen rezitieren können und bestimmte Teile, wo kein Abschluss von Segensspruch gesagt wird. Und andererseits sollen sie auch nicht allein sein bei dem Vorgehen und Geschehen, sondern so, wie es auch traditionell beschrieben ist, dass sie auch in Begleitung von ihren Eltern oder ihren Lehrern sind."

... denn nur wenn sie die Gebete mitsprechen, darf die Gemeinde darauf mit Amen antworten. Kinder, die nicht dazu verpflichtet sind, können - so die traditionelle Sichtweise - keine Gebete für die Gemeinde sprechen. Auch für Rabbinerin Treigers Lehrer, Admiel Kosman, er ist Professor für Rabbinische Studien an der Universität Potsdam, sind diese Rituale wichtig, aber nur, wenn sie die ethischen Werte im Blick behalten, auf sich die letztlich heute die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, orientieren will:

"Im Zentrum müssen Werte stehen, zum Beispiel: andere zu respektieren, auch zu Nichtjuden Beziehungen zu haben, den Glauben anderer zu respektieren, vor allem aber unsere Umwelt, die Natur zu respektieren. Das wird irgendwie vernachlässigt, weil man es so wichtig findet, ob das Kind die Chanukkakerzen anzündet oder nicht. Man ist dann in der Gefahr, sich in Details zu verlieren."
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