Das Ende der DDR

Beginn der großen Freiheit?

04:05 Minuten
Auf einer Brücke in Leipzig haben am 23.10.1989 DDR-Bürger Transparente aufgehängt und fordern Reise-, Presse-, Meinungsfreiheit sowie "Wir fordern Krenz(en)lose Freiheit".
"Weltbilder treffen da aufeinander, wo über Freiheit gesprochen wird", so Marius Hasenheit. Hier Protest im Oktober 1989 in Leipzig . © picture alliance/dpa
Überlegungen von Marius Hasenheit |
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30 Jahre nach dem Mauerfall scheinen viele Menschen im Osten desillusioniert zu sein. Was hätte anders laufen können nach der Wende? Der Zukunftsforscher Marius Hasenheit ist in der DDR geboren und erforscht die unterschiedlichen Erzählungen in seiner Familie.
Als Wendekind, geboren 1987, befand ich mich seit jeher zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite wurde der DDR hinterher getrauert, auf der anderen Seite war man froh, dass mit der Wiedervereinigung neue Zeiten begannen. Wer das Hinterhertrauern als Ostalgie beschreibt und an Ampelmännchen denkt, sollte – statt in Frankreich oder Italien – mal Urlaub in der Prignitz oder Altmark machen. Nur so viel: Es geht den Nachtrauernden nicht um Ostprodukte!
Von einem Teil meiner Familie hörte ich stets: "Es war für alle gesorgt. Wer nicht auffiel oder widersprach, konnte ein ruhiges Leben führen". Der andere Teil widersprach vehement: "Die Gesellschaft war unfrei und heuchlerisch – alle wussten, dass die Lage anders war, als offiziell dargestellt; und wer das thematisierte oder aus der Reihe tanzte, wurde auf brutale Weise auf Linie gebracht."

Unvereinbare Bilder

Lange Zeit waren beide DDR-Bilder für mich unvereinbar. Ich fragte mich, wie beide Lager in dem gleichen Land leben konnten. Später habe ich begriffen: Beide Wahrnehmungen passen gut zusammen – sie treffen sich bei dem Wert der Freiheit und den entsprechenden persönlichen Voraussetzungen.
Erich Fromm zeigt in seinem Buch "Die Furcht vor der Freiheit", wo sich der Zusammenhang finden lässt: Hier beschreibt er unter anderem den Übergang der mittelalterlichen Gesellschaft hin zur Renaissance und den entsprechenden Wandel im Verständnis zur Freiheit. Während im Mittelalter die gesellschaftliche Stellung, Kleidung, Speisen und Arbeiten vorgab und das Anhäufen von Besitz beinahe gotteslästerlich war, brachen diese festen Rollen und Klassen in der Renaissance auf. Zwar war es immer noch unmöglich, sich als einfacher Bauer zum Fürsten aufzuschwingen, doch über die gesellschaftliche Stellung entschied mehr und mehr der angehäufte Besitz – nicht die adelige Herkunft. Anstelle der Zünfte mit ihren vereinheitlichten Preisen, kam zunehmend Konkurrenz und Handel auf.

Nebenwirkungen der Liberalisierung

Doch die Freiheit ging auch mit der Notwendigkeit einher, sich selber zu orientieren und zu behaupten – was auch zu zunehmender Verunsicherung führte.
Natürlich wäre es unsinnig, die DDR mit dem mittelalterlichen Ständesystem zu vergleichen. Dennoch zeigt Fromm mit seinem Freiheitsbegriff und den "Nebenwirkungen" einer Liberalisierung auf, wo der Bruch in der Wahrnehmung der DDR zu finden ist:
Die Wende ging nicht nur mit einer erweiterten politischen Freiheit oder der Reisefreiheit einher – die gesellschaftliche Stellung musste von nun an selber behauptet werden. Die strikte, teilweise diskriminierende Vergabe von Studienplätzen, die Zuteilung von Wohnraum und Autos, die Einheitspreise – all das machte nun dem eigenen Streben und dem Konkurrenzkampf Platz.

Kümmere Dich um Dich selbst

Eine ganze Nation musste also nun lernen, Bewerbungen zu schreiben, sich dabei selbst darzustellen und sich "selbst zu kümmern". Später bildete ich mir ein, bei Auswahlseminaren und Prüfungen mit jungen Menschen aus ganz Deutschland, oft festzustellen, wer schon länger darin geübt war, die eigenen Stärken besonders zu betonen.
Wer in der DDR einen schweren Stand oder nach der Wende gute Voraussetzungen hatte, nahm die neue Zeit als frei wahr. Das waren nicht unbedingt nur kirchliche Kriegsgegner oder Mitglieder der jungen Bürgerrechtsbewegung, die später von den traditionellen Parteien absorbiert oder verdrängt wurden. Auch ehemalige Parteifunktionäre waren vernetzt genug, um sich schnell an die neuen Zeiten anzupassen und sich gesellschaftlich zu behaupten.
Die jeweiligen Erfahrungen und Voraussetzungen der Menschen formen letztlich das Weltbild, mit dem das neue System als kalt und egoistisch, oder effizient und dynamisch beschrieben wurde und weiterhin wird. Und diese Weltbilder treffen da aufeinander, wo über Freiheit gesprochen wird.
Erich Fromms Erläuterungen hinsichtlich der Freiheit helfen nicht nur, die unterschiedliche Wahrnehmung der DDR-Zeit zu erklären, sondern zeigen auch: Freiheit ist vor allem für diejenigen wertvoll, die sie nutzen können. Wer also die Ablehnung pluraler Gesellschaften und unfreie Gesellschaftsentwürfe zurückdrängen will, muss dafür sorgen, dass die Voraussetzungen, Freiheiten zu nutzen, gerecht verteilt sind.

Marius Hasenheit ist Mitherausgeber des transform Magazins, Mitarbeiter des Think Tanks Ecologic Institut und Mitglied der genossenschaftlichen Unternehmensberatung sustainable natives eG.



© Nils Schwarz
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