"Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien"

Die ewige Lüge von der jüdischen Weltverschwörung

06:18 Minuten
Buchcover: "Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien" von Richard J. Evans
Hass gegen Juden und Freimaurer: Richard J. Evans geht den unterschiedlichen Arten von Verschwörung nach, auch denen, die sich auf eine Personengruppe richteten. © Deutschlandradio/DVA
Von Dietmar Süß · 06.11.2021
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Die "Protokolle der Weisen von Zion" sind eine plumpe Fälschung. Warum hält sich die antisemitische Lüge trotzdem? Der britische Historiker Richard J. Evans untersucht, wie gesichertes Wissen gegen "alternative Fakten" verteidigt werden kann.
Er ist wieder da. Oder genauer: Er war nie weg. Das FBI jedenfalls hatte in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine ganze Akte mit Berichten über Hitlers angebliches Überleben gesammelt: Mal behauptete eine Schweizer Journalistin, der "Führer" lebe einfach gemeinsam mit Eva Braun in Bayern weiter.
Andere berichteten, sie hätten ihn in Albanien gesichtet, in einer Gruppe von Banditen. Auch von einem Mann auf einer nebelverhangenen Insel in der Ostsee war die Rede, der Hitler sei. Der "Führer" jedenfalls habe überlebt, vielleicht auch in Argentinien, einer der besonders hartnäckigen Erzählungen.
Für die Alliierten waren das gefährliche Gerüchte. Denn was würde das bedeuten, wenn Hitler doch hätte flüchten können? Der Sieg über das "Dritte Reich" jedenfalls wäre damit keineswegs endgültig gewesen, der mörderische Fluch des Verbrecherregimes nicht vollständig gebrochen.
In seinem neuen Buch geht Richard J. Evans solchen klebrigen Legenden nach, die sich um das "Dritte Reich" ranken. Der lange in Cambridge lehrende Evans, einer der führenden britischen Deutschlandhistoriker mit großer Kenntnis über die Geschichte des Nationalsozialismus, konzentriert sich dabei auf fünf Verschwörungstheorien und ihr Nachleben bis in unsere Gegenwart: die "Protokolle der Weisen von Zion", jenem bis heute wirkungsmächtigen antisemitischen Pamphlet angeblicher jüdischer Weltverschwörung, die Geschichte des Reichstagsbrandes, Rudolf Heß‘ Englandflug und "Friedensangebot" am 10. Mai 1941 sowie Hitlers "Flucht" aus dem Bunker im Mai 1945.

Verschwörungstheorien fragen nach dem: Cui bono.

Verschwörungstheorien – so unterschiedlich motiviert und begründet sie auch sind – fragen immer wieder nach dem: Cui bono. Wem nützt ein Ereignis? Denn wer davon profitiert, der müsse es auch herbeigeführt haben. Wenn also besonders die Juden vom Aufstieg des Liberalismus und Kapitalismus im 19. Jahrhundert profitiert hätten, dann müssten auch sie die Fäden dafür in der Hand gehalten haben. Wenn die Linken und Demokraten die Hauptnutznießer der Niederlage des Ersten Weltkrieges gewesen seien, dann ginge die Niederlage im Felde auch auf ihr Konto – und das Heer sei letztlich unbesiegt und von hinten "erdolcht" worden.
Evans geht den unterschiedlichen Arten von Verschwörung nach: Solchen, die sich systematisch auf eine Gruppe beziehen und ihren Hass vor allem auf eine Personengruppe richteten, wie gegen die Juden oder die Freimaurer. Andere Verschwörungstheorien zielten eher auf Ereignisse, auf dunkle Mächte im Hintergrund, die für den Ablauf der Geschichte besonders prägend gewesen waren.

Reduzierung auf einfache Zusammenhänge

Evans hält sich nicht sehr lange damit auf, die intensive Debatte über den Wert des Begriffs der "Verschwörungstheorie" zu prüfen. Wäre es sinnvoller, von "Mythen" oder "Ideologien" zu sprechen als von "Theorien"? Im Kern, und das macht Evans deutlich, reduzieren Verschwörungstheorien Zusammenhänge auf einfache Botschaften, auf die Kraft der dunklen Mächte. Sachverhalte werden verknüpft, die keine nachprüfbaren Beziehungen haben, Plausibilitäten behaupten, die es nicht gibt, oft auch Fakten und Dokumente gefälscht. Es gehört zur Methode, Gegenargumente und die Überprüfbarkeit selbst noch als Hinweis auf die "Verschwörung" der anderen und auf unterdrückte "Wahrheiten" zu verstehen.
Die Geschichte des Nationalsozialismus, allen voran antisemitische Verschwörungsfantasien, sind mit den Jahren und dem gestiegenen Wissen aber keineswegs verschwunden. Im Gegenteil. Im Kampf gegen das vermeintlich etablierte Herrschaftswissen haben sie eine eigene Konjunktur. Sie entziehen sich den Regeln einer demokratischen Wissenschaftskultur und haben sich durch die sozialen Medien neue Verbreitungswege geschaffen.

Ansammlung antisemitischer Stereotype

Die Fallbeispiele, die Evans ausbreitet, sind nicht neu, und manches davon hat man auch an anderer Stelle schon lesen können. Vor allem hätte man sich gewünscht, dass er die unterschiedliche Bedeutung seiner Beispiele noch stärker in die erinnerungskulturellen Wandlungen nach 1945 einbettet, also nach der Funktion der unterschiedlich gelagerten Verschwörungen im bundesrepublikanischen, aber auch im angelsächsischen Raum fragt. Hier bleibt das Buch bisweilen etwas zu vage und macht zu wenig deutlich, welche unterschiedlichen Funktionen die von ihm diskutierten Fallbeispiele für den Umgang mit dem Nationalsozialismus hatten.
Am besten gelungen ist das im ersten Kapitel über die "Protokolle der Weisen von Zion", dem bis heute wohl einflussreichsten Text zur "jüdischen Weltverschwörung". Eindringlich zeichnet Evans den Weg dieser vermeintlichen "Denkschrift" nach, die angeblich das Protokoll des 1. Zionisten-Kongresses von 1887 in Basel dokumentieren soll und die zahlreiche antisemitische Stereotype transportierte: Eine Gruppe jüdischer "Weiser", die sich zusammengeschlossen hätten, die Weltherrschaft zu übernehmen; die Annahme, Liberalismus und Sozialismus seien Produkte dieses zerstörerischen "jüdischen Denkens"; die Idee, die Presse und Wirtschaft würden von Juden regiert und führten die Welt bewusst ins Chaos, um davon zu profitieren; und dass es am Ende eine "Macht" gebe, die im Schatten der Öffentlichkeit ihr Gift verteile.

Schon Zeitgenossen war klar, Protokolle sind Fälschung

Schon zeitgenössisch war bald klar, dass es sich bei den "Protokollen" um eine Fälschung handelte. Aber an ihrer Sogwirkung änderte das nicht viel. Sie schienen dabei weniger als eine Art "Offenbarung" denn als Form beständiger Aktualisierung dessen, was ohnehin zum antisemitischen Grundtenor gehört.
Evans, der sich in der Vergangenheit immer wieder leidenschaftlich gegen Holocaust-Leugner wie David Irving engagiert hat, treibt auch in seinem jüngsten Buch eine zentrale Frage um: Wie können wir Fakten von Fiktionen unterscheiden, wie akribisch und sorgfältig rekonstruiertes historisches Wissen gegen "alternative Wahrheiten" verteidigen? Diese wichtige Grundmelodie prägt dieses Buch, und dieser Grundimpuls historischer Arbeiten führt uns mit in die Kontroversen der Gegenwart. Das macht die Lektüre erhellend und nachdenklich zugleich.

Richard J. Evans: "Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien. Wer sie in die Welt gesetzt hat und wem sie nutzen – Von den 'Protokollen der Weisen von Zion' bis zu Hitlers Flucht aus dem Bunker"
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt
DVA, München 2021
368 Seiten, 26 Euro

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