Das Buch meines Lebens

Harold Brodkey: "Die flüchtige Seele"

02:46 Minuten
Michael Kumpfmüller schaut schmunzelnd in die Kamera. Im Hintergrund sind Buchseiten in der Nahaufnahme.
Michael Kumpfmüller ist ein deutscher Schriftsteller. © dpa/ Erwin Elsner
Von Michael Kumpfmüller · 21.03.2019
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Für Michael Kumpfmüller ist "Die flüchtige Seele" das Buch seines Lebens. Ein nachdenklicher Roman, der versucht, das Leben des Autors zu entziffern. Er zeigt, wie eine Seele trotz schwerer Verletzungen wieder heilen kann.
Mein Buch des Lebens heißt "Die flüchtige Seele" von Harold Brodkey. Wobei ich weiß, dass das ein Buch einer Lebensphase ist. Ich liebe den Titel: Denn der sagt ja, dass es eine Seele gibt, was ja viele bestreiten oder jedenfalls nicht in dieser Formulierung sagen würden. Und der Titel sagt auch, dass die Seele etwas Flüchtiges ist, etwas schwer Fassbares.
Harold Brodkey versucht, sie zu fassen, indem er eigentlich seine Lebensgeschichte aufschreibt. Auf vielen 1000 Seiten, von denen nur ein paar publiziert sind. Er hat eigentlich in den 30 Jahren nie ein Ende gefunden. Es geht um ihn, einen Jungen, der seine Mutter bei der Geburt verliert und in eine Pflegefamilie kommt. Die Pflegemutter ist eine totale Narzisstin, der Vater ein überwältigender Liebhaber inklusive sexueller Übergriffe und die Stiefschwester malträtiert den neuen kleinen Stiefbruder mit Gewalt.

Das Entziffern des Seelenlebens

Der Roman versucht zu eruieren, was das mit seiner Seele gemacht hat, wie er überleben kann, was ihm am Ende gelingt, und was eine Seele ist. Wir sagen ja immer, die Haut ist unser größtes Organ, was stimmt. Ich würde sagen, unser größtes Organ ist die Seele. Sie ist nämlich unendlich groß, und deswegen braucht es so viel Zeit zu ermessen, was im Seelengeschehen passiert. Es dauert unendlich lange, um sich von so schweren Schäden, wie in diesem Fall, zu erholen. Aber es kann gelingen.
Das ist ein sehr nachdenkliches, ein wunderschön erzähltes Buch, das immer wieder neu ansetzt. So gesehen eine Zumutung. Aber ich habe noch nie in meinem Leben ein Stück Literatur gelesen, das sich so dezidiert an das herangewagt hat, was Literatur ja immer ist, nämlich Entziffern. In dem Fall das Entziffern der Innenräume. Aber ins Allgemeine gewendet, das ist ja das Wunder Literatur: Dass jede Literatur – und deshalb lieben wir sie – irgendwas zu entziffern sucht. Und dafür bewundere ich ihn, der eine Art Bruder für mich geworden ist. Aber auch andere, dass wir mit dieser Arbeit nie aufhören.

Harold Brodkey, "Die flüchtige Seele"
Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 1997
1344 Seiten, 14,90 Euro

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