Das Bild eines umtriebigen Despoten

Rezensiert von Jan Schleusener · 21.10.2012
Kurt Pelda hat Gaddafi in den letzten Jahren seiner Herrschaft beobachtet und zeichnet ein facettenreiches Porträt der Herrschers und Libyens. Auch dessen Beziehungen zum Westen nimmt der Auslandskorrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung" kritisch unter die Lupe.
Die Bilder seines gewaltsamen Todes gingen um die Welt. Es war ein unwürdiges Ende für Muammar al-Gaddafi, den gestürzten libyschen Revolutionsführer. Die Rebellen reklamierten die Exekution des bereits abgesetzten Herrschers im Herbst 2011 für sich, und bis heute hält sich im Land der Mythos von seiner Hinrichtung.

Fotos und Videos beweisen jedoch: Gaddafi war bereits tödlich verwundet, als die Rebellen ihn fanden und auf ihn schossen. Darauf macht jetzt nochmals Kurt Pelda aufmerksam, der Auslandskorrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung". Er hat Gaddafi in den letzten Jahren seiner Herrschaft beobachtet – und etliche Reisen in das Rebellengebiet unternommen. Nun zeichnet er ein facettenreiches Porträt des Herrschers und seines Landes.

Kritisch nimmt er die Beziehungen westlicher Politiker zu Gaddafi unter die Lupe und verfolgt, in welchem Maße wirtschaftliche Interessen das Handeln "des Westens" gegenüber Libyen bestimmten.

Der Tod beendete eine lange Ära. Sie begann 1969 mit einem unblutigen Militärputsch.

"Damals war "der 27-jährige, gut aussehende Gaddafi populär in Libyen. Seine antiwestliche und panarabische Rhetorik, gepaart mit dem Hass auf Israel, war nach dem Geschmack des Volkes. Die Verstaatlichung der Erdölindustrie sowie der Banken und Versicherungen stieß im Volk auf breite Zustimmung.
Zudem verteilte Gaddafi die Erdöleinnahmen mit beiden Händen. Er investierte in den Wohnungsbau und in die Landwirtschaft, begann riesige Bewässerungs- und Infrastrukturprojekte, führte soziale Dienste für die Nomaden in der Wüste ein und ließ Krankenhäuser und Schulen aus dem Boden stampfen."


Weniger erfolgreich war er mit seinen weit ausgreifenden panarabischen Fusionsplänen: Weder der Zusammenschluss mit Ägypten oder Tunesien noch die Vision eines Sahara-Staates ließen sich verwirklichen.

1973 proklamierte der umtriebige Herrscher eine "islamische Kulturrevolution".

"Volkskomitees aus Ignoranten und Nichtskönnern drangen in Radiostationen, Universitäten, Betriebe und Krankenhäuser ein, um das Land von Parasiten und Reaktionären zu reinigen und um ausländische Einflüsse und Verderben bringende Bücher zu entfernen.
Der Einfall der Volkskomitees ließ das Chaos ausbrechen, und das Durcheinander entwickelte sich zum Markenzeichen der Dschamaria.
Gaddafi nahm die Unordnung in Kauf. Wenn sich die Volkskomitees gegenseitig Konkurrenz machten, war ihm das recht. Die dadurch gestiftete Verwirrung hatte insofern System, als sie Entscheidungsträger in Verwaltung und Betrieben in Angst und Schrecken hielt."


Doch er hielt sich, wie Kurt Pelda betont, nicht nur durch Terror und Zwangsmaßnahmen an der Macht.

"Gaddafis Intellekt war vielleicht bescheiden, doch besaß der Revolutionsführer einen sicheren Machtinstinkt und etwas, das man in Anlehnung an Bauernschläue Beduinenschläue nennen kann."

Zum Machterhalt bediente er sich der Devise "Teile und herrsche". Außerdem verfuhr er nach dem Prinzip von "Zuckerbrot und Peitsche".

Der Terror blieb das bestimmende Element seiner Politik nicht nur im Innern, sondern auch nach außen. Ganz selbstverständlich setzte Muammar al-Gaddafi Geiselnahmen als Mittel der libyschen Außenpolitik ein. 1986 ließ er auf die Berliner Diskothek "La Belle" einen Bombenanschlag verüben; zwei GI’s starben. Auch das Attentat auf ein amerikanisches Flugzeug, das 1988 über dem schottischen Ort Lockerbie abstürzte, ging auf sein Konto. Der UNO-Sicherheitsrat reagierte mit Sanktionen und einem Waffenembargo.

Der 11. September 2001 veränderte die Einstellung vor allem der USA: Aus dem gefürchteten Staatsterroristen wurde über Nacht ein Alliierter im Kampf gegen das Terrornetzwerk al-Kaida. Wenn Gaddafi schon kein Freund der USA wurde, so war er doch zumindest ein Feind ihrer Feinde. Nach der neuen US-Doktrin genügte dies, um ihn auf internationalem Parkett zu rehabilitieren.

2003 hob der UNO-Sicherheitsrat die Sanktionen gegen Libyen auf. Westliche Regierungschefs wie der englische Premier Tony Blair, Bundeskanzler Gerhard Schröder oder Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi machten Gaddafi ihre Aufwartung. Dabei verhandelten sie mit einem, folgt man Pelda, geistig nicht ganz zurechnungsfähigen Despoten:

"War Gaddafi ein Psychopath? Vieles spricht dafür: seine bizarren Auftritte vor der Weltpresse, seine eigenwilligen Beduinenroben und Phantasieuniformen, die Grausamkeit, mit der er jede Kritik, jeden Witz über seine Person unterdrücken ließ, der mit dem Alter zunehmende Realitätsverlust und sein Drang, Niederlagen und Rückschläge in glorreiche Siege und Erfolge umzumünzen."

Als sich in der arabischen Welt die Massen gegen ihre Herrscher zu erheben begannen, war seine Zeit abgelaufen. Der "Revolutionsführer" verwickelte sich in einen Abwehrkampf, den er nicht mehr gewinnen konnte.

Die Umstände des Todes und das Ausstellen seiner Leiche in einem Kühlhaus von Misrata deutet Kurt Pelda als schlechtes Omen für die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Libyen. Und nennt weitere Defizite: Korruption und Vetternwirtschaft würden weiter bestehen, ebenso alte Gesetze in Kraft bleiben und eine unabhängige Justiz fehlen.
Um auf die Beine zu kommen, so meint der Autor, müsse sich das Land föderal organisieren – mit Rücksicht auf Stämme und Regionen, die auch an den Öleinnahmen beteiligt werden sollten. Justiz- und Polizeiapparat sollten schnell aufgebaut und Gesetze zur Korruptionsbekämpfung erlassen werden.

Bei aller Kritik: die arabische Revolution in Nordafrika lässt Kurt Pelda hoffen, weshalb er sein Buch mit einem leidenschaftlichen Appell beendet:

"Libyen bietet die einmalige Chance, die tiefen Gräben zuzuschütten, die am 11. September 2001 in New York und im darauffolgenden "Krieg gegen den Terror" aufgerissen wurden. Libyen könnte der Anfang für eine Versöhnung werden, für ein besseres Verständnis zwischen der christlich geprägten und der muslimischen Welt. Diese einmalige Chance darf der Westen nicht verpassen."

Kurt Pelda: Gaddafis Vermächtnis. Waffen, Öl und die Gier des Westens
Orell-Füssli-Verlag Zürich, März 2012
Cover Kurt Pelda: "Gaddafis Vermächtnis. Waffen, Öl und die Gier des Westens"
Cover Kurt Pelda: "Gaddafis Vermächtnis. Waffen, Öl und die Gier des Westens"© Orell-Füssli-Verlag Zürich
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