Das Bedürfnis zu glauben

Julia Kristeva im Gespräch mit Susanne Führer · 08.03.2011
Die französische Philosophin Julia Kristeva zählt zu den bedeutendsten Gelehrten moderner Literaturtheorie. Sie erkundet das Bedürfnis zu glauben und sagt: "Der Glaube ist koexistenziell für die menschliche Existenz."
Susanne Führer: Philosophie, Linguistik, Psychoanalyse, Literatur – auf all diesen Gebieten arbeitet Julia Kristeva. Geboren wurde sie 1941 in Bulgarien, aber als junge Frau zog sie nach Paris, wo sie bis heute lebt und arbeitet. Sie gilt als eine der zentralen Figuren des Poststrukturalismus, stützt sich wie auch viele ihrer Kolleginnen und Kollegen zentral auf die Theorien Jacques Lacans, auf sie geht zum Beispiel der Begriff Intertextualität zurück. Heute Abend wird Julia Kristeva in Berlin einen Vortrag über Religion und das Bedürfnis zu glauben halten. Ich habe sie vor der Sendung getroffen und zunächst gefragt, ob sie denn selbst ein solches Bedürfnis zu glauben verspüre.

Julia Kristeva: Zunächst einmal muss man sich die Frage stellen, was ich unter dem Bedürfnis zu glauben verstehe. Ich versuche zu erklären, dass alle Religionen, jede auf ihre Weise, in der Menschheitsgeschichte sich auf das universelle Bedürfnis zu glauben stützen, das präreligiös ist und eine anthropologische Konstante darstellt. Jeder von uns hat es in seiner Kindheit empfunden, mit seiner Mutter, mit seinem Vater. Das Bedürfnis, zu vertrauen, das Bedürfnis, anerkannt zu werden, dieses Bedürfnis ist uns immer eigen. Es wird zum Wunsch, später zur Erfahrung, aber es ist etwas fundamental im Menschen Angelegtes. Dieses Bedürfnis teile ich natürlich auch. Bei Patienten findet man es ebenfalls. Das Problem mit den Religionen ist, dass oft dieses Bedürfnis ausgenutzt wird, man gibt ihm Trost oder Auswege, die sehr positiv und schmeichelnd erscheinen können, aber auch todbringend sein können. Da hat die Säkularisierung Fragen gestellt und versucht, sich der Vereinnahmung dieses Bedürfnisses zu glauben durch religiöse Institutionen entgegenzustellen.

Führer: Ich muss da doch noch mal nachfragen, Madame Kristeva, das Bedürfnis zu glauben hat in diesem Sinne also gar nicht notwendigerweise etwas mit Religion zu tun?

Kristeva: Ich denke in der Tat – das zeigt auch meine psychoanalytische Erfahrung und das hat Freud auch entdeckt –, dass es ein anthropologisches Bedürfnis ist, dass ich religiös nennen würde, das aber nicht Religion ist. Als die Säkularisierung den Missbrauch durch die Religion angegriffen hat, hat sie nicht genug fokussiert auf diese unabdingbare Notwendigkeit des Bedürfnisses zu glauben, das die Religion transzendiert. Man sah den Missbrauch, aber nicht das Positive und den konstruktiven menschlichen Wert in der Religiosität. Ich meine nicht in der Religion.

Führer: Jetzt diskutiert die ganze Welt ja schon seit Langem über die Wiederkehr des Religiösen, über religiösen Fundamentalismus, Sie beziehen sich stark auf Freud, auch gerade eben in Ihrer Antwort, aber der hat ja die religiöse Erfahrung als die Zukunft einer Illusion bezeichnet. Muss man also heute sagen, dass Freud sich geirrt hat?

Kristeva: Ja, was ein Fehler ist. Man liest oft Freud oberflächlich. Er hat ein Buch geschrieben mit dem Titel "Zukunft einer Illusion", aber er spricht von einer Zukunft der Illusion. Das Bedürfnis zu glauben hat eine Zukunft. Der Glaube ist koexistenziell für die menschliche Existenz. Der Homo sapiens ist ein Homo religiosus. Der Mensch des Wissens ist ein Mensch des Glaubens. Das ist es, was Freud sagt, wenn er von der Zukunft einer Illusion spricht.

Führer: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit der französischen Philosophin Julia Kristeva. Sie schreiben, Frau Kristeva, auch über die Kraft des Monotheismus, also ob jetzt Christen- oder Judentum, ob Islam, und die Kraft des Monotheismus bestünde eben darin, sich ständig neu zu erfinden, auch durch die historischen Brüche, die in allen Gesellschaften stattgefunden haben – also noch mal ein Verweis auf die Zukunft einer Illusion, wenn man so will. Wie findet denn diese Neuerfindung zurzeit statt?

Kristeva: Ja, hinsichtlich der Kraft des Monotheismus möchte ich zunächst die Tatsache hervorheben, dass die monotheistischen Religionen die Rolle des Vaters besonders unterstrichen haben. Der Monotheismus, der Schöpfervater, die Rolle des einen in der Konstituierung des sprechenden Subjekts. Da hinein greift die Idee von Freud mit der Identifizierung mit dem Vater. Freud sagt, es ist das Bedürfnis, an den Vater zu glauben. Ein französischer Kardinal namens Lustiger sagt, dass der Monotheismus das Subjekt im Menschen geschaffen hat. Durch die Bedeutung der Rolle des Vaters. Diese Bedeutung ist entscheidend in allen Zivilisationen, die sie im Vater verehren oder nicht verehren. Weil alle Menschen diese väterliche Funktion brauchen. Das ist die Geschichte der menschlichen Familie bis heute. Die Geschichte des Glaubens erlebt Entwicklungen. Der große Bruch aber – und dieser ist einzigartig in der Geschichte der Religionen – fand statt, als aus dem Theismus ein Atheismus wurde. Das ereignete sich in den christlichen Religionen mit dem Bruch der Aufklärung, als die Französische Revolution und die Aufklärung in Europa die Referenz zum Göttlichen aufgegeben haben und nur die moralische Konstruktion der Religion beibehalten haben. Wie bei Kant zum Beispiel mit der Pflicht, dem Ideal, ohne Gott als höhere Abstraktion. Also, was ist seitdem geschehen? Es gibt eine weitere, sehr wichtige Bewegung, nämlich die Emanzipation der Frau. Das ist ein anderes Bild des Menschen, das stark die Familie, aber auch die Religion erschüttert. Die großen Momente des 20. und 21. Jahrhunderts waren die Pille und die Abtreibung, all die Möglichkeiten der Intervention in utero. Eine große anthropologische Revolution ist das.

Führer: Madame Kristeva, Sie haben ja vielfältig zur feministischen Theorie beigetragen – was bedeutet Ihnen der internationale Frauentag, der sich heute zum hundertsten Mal jährt?

Kristeva: Nun, ich weiß, dass es viele Frauen gibt, die dieses Fest weiterhin noch begehen. Andere ärgern sich darüber, weil sie denken, das ist ein Relikt des Kommunismus und ein Gefangenhalten der Frau in Stereotypen. Ich bin dafür, dass es Feste gibt, ich finde, es ist gut, dass es dieses Fest gibt, unabhängig von den Ursprüngen, den Irrungen und Wirrungen. Es ist gut, dass es einen Tag für die Menschheit gibt, an dem man der Komplexität der Frauen gedenkt. Und diese Komplexität ist sehr wichtig. Es gibt die Freiheit zu arbeiten, zu genießen und Leben zu schenken. Also wie all dies miteinander in Einklang bringen? Man spricht von Universalismus, die Frauen werden ein universelles Thema, wie andere Themen. Und vielleicht ist die Mutterschaft dafür ein Handicap diesbezüglich. Sie sind nicht so universell wie die universellen Männer, weil sie sich um die Kinder kümmern müssen. Ich denke, dass die aktuellen Theorien nach dem Big Bang uns entdecken lassen, dass die Welt sich in Ausweitung befindet, dass es nicht mehr nur eine Welt gibt, sondern plurale Welten. Zum Beispiel, man nennt es nicht mehr Universum, die Astronomen nennen es nunmehr Pluriversum. Unsere Welt hat drei Dimensionen, es gibt aber Welten, die gar fünf oder sechs Dimensionen haben. Das heißt, es gibt universelle Gesetze, doch diese werden unterschiedlich dekliniert in diesen pluralen Welten um uns herum. Eine Frau ist bereits ein Pluriversum. Sie ist eine Frau, die arbeitet, sie ist Geliebte, sie ist Mutter, mindestens diese drei Universen gibt es. Und die machen aus ihr eine plurale Welt. Wenn man sich diese Komplexität des weiblichen Universums bewusst macht anlässlich des 8. März, dann wäre man vielleicht respektvoller, würde man Frauen mehr Raum geben für ein besseres Zusammenleben.

Führer: Sagt die französische Philosophin Julia Kristeva. Heute Abend hält sie in Berlin auf Einladung der Berliner Festspiele einen Vortrag über das Bedürfnis zu glauben. Die Dolmetscherin war Kristin von Randow.
Mehr zum Thema