Reine Glaubenssache

Von Jochen Stöckmann · 06.03.2011
Die französische Philosophin Julia Kristeva fragte bei ihrer "Berliner Lektion" nach der Existenz einer "europäischen Kultur". Was sie dem Europäer des 21. Jahrhunderts ins Aufgabenheft diktiert, ist mehr als nur Sprachunterricht.
Julia Kristeva kam 1966 mitten im Kalten Krieg aus Bulgarien zum Studium nach Frankreich, sie hat darüber hinaus lange Zeit in den USA gelehrt - und betrachtet sich selbst als Europäerin. Was das angesichts ausufernder Identitätsdebatten bedeutet, erläutert die Psychoanalytikerin in ihrem Beitrag zu den "Berliner Lektionen":

Julia Kristeva: "Man ist Franzose oder Deutscher, Muslim oder Jude, Frau oder Schwuler. Das kann sich als Quelle von Stolz erweisen, aber auch von Kränkungen oder Ursache von Kriegen, Befreiungskriegen wie auch Kämpfen gegen die Freiheit. Im Gegensatz zu diesem Kult der Identität entsteht in Europa so etwas wie die Suche nach Identität."

Mit diesem weisen Verzicht auf selbstsüchtige Abgrenzungen wird derzeit in Europa verwirklicht, was Immanuel Kant um 1800 gefordert hat: "ewiger Frieden". So zumindest sieht es Julia Kristeva. Allerdings hat sie keine konkreten Beispiele parat, zitiert stattdessen aus der Philosophiegeschichte von den Griechen der Antike über den biblischen Satz Jesu "ich bin der ich bin" bis hin zu Descartes, Montaigne und Heidegger. Das Resümee dieser Tour d'Horizon: es gibt in der europäischen Geistestradition keine Definition einer fest gefügten Identität - und eben deshalb plädiert sie für ein "Ensemble der Singularitäten".

Julia Kristeva: "Ich weiß wohl: das ist Theorie - an Praxis mangelt es. Aber lasst uns stolz sein auf diese Theorie und versuchen, sie zu praktizieren, statt in Untergangsprognosen zu verfallen."

"Declinologie", die "Lehre vom Niedergang", ist eine typische Intellektuellenreaktion der Ära Sarkozy - und nicht nach Kristevas Geschmack. Sie denkt nicht in eindimensionalen Kampfbegriffen und Politvokabeln, setzt stattdessen auf den Reichtum nicht einer, sondern vieler Sprachen:

"Diese Mehrsprachigkeit ist Basis kultureller Vielfalt, sie muss geschützt und respektiert werden. Aber es geht auch um Austausch und Vermischung. Das ist etwas Neues für Europas Bürger und verdient Nachdenken sowie gründliche Vertiefung."

Was Julia Kristeva dem Europäer des 21. Jahrhunderts ins Aufgabenheft diktiert, ist mehr als nur Sprachunterricht. Es geht um die Veränderung der Gesellschaft, des sozialen Verhaltens im Medium der Sprache:

Julia Kristeva: "Nach dem Schrecken der Schoah begegnen der Bourgeois des 19. Jahrhunderts ebenso wie der Aufrührer des 20. Jahrhunderts einem neuen Typus: Aus der linguistischen Vielfalt Europas entsteht, was ich die Kaleidoskop-Individuen nenne."

Erste Vertreter dieser Spezies hat die Pariser Professorin bereits gesichtet. Es sind ihre Studenten, die zumeist vier bis fünf Sprachen beherrschen, für die Europa tatsächlich grenzenlos scheint. Aber das sind Einzelfälle, individuelle Beispiele, die Julia Kristeva denn auch keineswegs gegen gewichtige Faktoren wie etwa den fortdauernden Kollektiv-Mythos der "Nation" ins Feld führen mag.

"Hier in Deutschland wissen Sie besser als alle anderen um die Verlockungen und Verwerfungen dieses Mythos, der in der Schoah endete. Der aber auch lebendig werden lässt, was ich als antidepressiven Wert der Nation beschreiben möchte."

Dabei denkt Kristeva, die sich selbst als politisch "links" bezeichnet, an so etwas wie ein "gesundes Selbstbewusstsein", etwa an die Betonung französischer Eigenarten im Vergleich zu deutschen oder englischen Besonderheiten. Wichtig könnte so etwas ihrer Ansicht nach im Wahlkampf werden, wo nach neuen Umfragen der rechtsextreme Front National die Nase vorn hat, eben weil die Linke der "Nation" nichts Positives abgewinnen mag.

"Ich habe das Gefühl, dass unter europäischen Intellektuellen eine Art cartesianischer Zweifel um sich greift, dass sie alles kritisieren, statt zu schauen, was uns vorwärts bringen könnte."

Auf der Suche nach dieser Zukunft Europas jongliert Julia Kristeva lieber mit Worten und Begriffen, führt ihre Zuhörer von einem Paradox zum nächsten Widerspruch - um dann ihr Überraschungsrezept hervorzuzaubern. Etwa zum Problem der Jugendrevolten in den französischen Vorstädten, den Banlieues: Die Aggressivität führt die Psychoanalytikerin darauf zurück, dass die Heranwachsenden jeglichen Glauben verloren haben, sich weder für eine Religion noch ein politisches System interessieren:

"Dieser Drang zu glauben, ist die unerlässliche Basis für den Wunsch nach Wissen, für das Verlangen, Fragen zu stellen, Dinge in Frage zu stellen. Und alles, was ich Ihnen über Europa als eine Kultur des Infragestellens gesagt habe, ist gegründet auf der Tatsache, dass es keine Fragen gibt ohne Glauben."