Daniela Danz: "Wildniß"

Poetische Natur

15:20 Minuten
Daniela Danz steht vor einer Mauer und schaut freundlich in die Kamera
Daniela Danz wurde mit dem Deutschen Preis für Nature Writing ausgezeichnet. Sei sagt, für sie sei Wildnis ambivalent. © laif / Isolde Ohlbaum
Moderation: Frank Meyer · 03.08.2020
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Für ihren Lyrikband "Wildniß" wurde Daniela Danz im vergangenen Jahr mit dem Deutschen Preis für Nature Writing ausgezeichnet. Wildnis sei für sie persönlich idyllisch, sagt sie, aber Wildnis habe auch etwas Ungeordnetes und Zerstörerisches.
Frank Meyer: Im Deutschlandfunk Kultur ist Lyriksommer und wir stürzen uns in Gedichte, heute mit Daniela Danz, Jahrgang 1976, in Eisenach geboren. Sie lebt in Kranichfeld an der Ilm als freie Autorin, außerdem leitet sie das Schillerhaus im thüringischen Rudolstadt. Ihr jüngster Gedichtband heißt "Wildniß", und für Gedichte aus diesem Band hat sie im vergangenen Jahr den Deutschen Preis für Nature Writing bekommen. Frau Danz, warum sind Ihre Gedichte eigentlich Nature Writing?
Daniela Danz: Das Nature Writing ist ja eine Sache, die durchaus nicht neu ist, sondern schon im 18. Jahrhundert seine Wurzeln hat. Aber es ist jetzt wieder ein aktueller Begriff geworden, weil man sich unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts oder auch schon des 20. Jahrhunderts fragt: Was ist Nature Writing? Was ist Natur? Mit welcher Natur gehen wir heute um? Mit welchem Naturbild? Und, wie gehen wir mit der veränderten Natur um, die wir selbst als Menschen geschaffen haben?
Insofern hat das, was in diesem Gedichtband verhandelt wird, damit zu tun, dass es um vom Bergbau vernutzte Gebiete geht, zum Beispiel, dass es aber auch darum geht – rein sprachlich – wie schaffe ich es, Strukturen, die ich in der Natur vorfinde oder die ich aus der Natur nachbilden möchte, in Sprache zu übernehmen?

Natur und Industriekultur

Meyer: Sie haben gesagt, da steckt auch die Frage drin, was Natur eigentlich ist für uns. Was ist denn Natur für Sie?
Danz: Natur ist für mich als DDR-Kind – wobei, das ist natürlich woanders auch nicht anders – Natur ist durchaus immer mit Industriekultur verbunden. Natur hängt eng mit dem Landschaftsbegriff zusammen, den ich, wie andere Menschen auch, aus dem 19. Jahrhundert übernommen habe, wo man gewisse industrielle Folgen durchaus mit aufgenommen hat.
Die großen Felder, die wir hier zum Beispiel haben, sind für mich Natur. Aber das sind sie natürlich nicht: Insofern ist Natur einerseits ein Konstrukt. Aber andererseits habe ich mir eben gerade den Begriff der Wildnis genommen, um auf diesen speziellen Aspekt, auf diesen Part der Natur besonders einzugehen – dieses chaotische, ungeordnete, auch lebensspendende, aber auch zerstörerische.
Meyer: Ich habe vorhin den Anfang Ihres Gedichtes "Komm' Wildnis in unsere Häuser" zitiert. Das ist gleich das zweite Gedicht in Ihrem Band. Und das ist eine Anrufung an die Wildnis, also "Komm' Wildnis in unsere Häuser", mit welchem Ziel eigentlich? Was soll die Wildnis tun? Was wird ihr aufgetragen in diesem Gedicht?
Danz: Das ist eine gute Frage. Der Band ist ja absolut nicht moralisch, obwohl ich zu diesen Dingen durchaus auch eine Haltung habe. Aber dieses Gedicht ruft quasi die Zerstörung an, die aber als eine Nennung der Phänomene auftaucht, die Wildnis im Positiven wie im Negativen bewirkt.
Wildnis ist für mich so ambivalent, dass ich mich nicht entscheiden wollte, zu sagen: Wildnis ist etwas – wie es jetzt allgemein eigentlich so gesellschaftlich Usus ist –, etwas, was wir uns zurückwünschen: Wildnisgebiete werden ausgewiesen, Wildnis bedeutet Abenteuer. Gerade im Moment ist Wildnis recht positiv besetzt. Wildnis ist aber auch nicht das Dämonische, vor dem man Angst haben muss, sondern beides zugleich und nichts von dem ausschließlich.
Dieses Gedicht geht dem nach – das kann eben die Kunst –, ohne zu werten, welches davon die Wildnis ist, die wünschenswert ist und welches die ist, die nicht wünschenswert ist. Wildnis kann sich nicht trennen in die, die wir brauchen, und die, die wir nicht brauchen können.

Auslöschen der Menschheit durch die Natur

Meyer: Wobei: So wie ich es jetzt gelesen habe – das liegt natürlich immer an einem selbst, was man hineinliest in so einen Text – aber wenn ich nur mal den Anfang nehme:
Komm’ Wildnis in unsere Häuser
zerbrich die Fenster
komm’ mit deinen Wurzeln und Würmern
überwuchere unsere Wünsche.
Das ist ja schon wie ein Auftrag an die Wildnis. Komm’ und lösche unsere Menschenwelt aus. Oder?
Danz: Das hat Wildnis ja in sich.
Meyer: Aber es wird ihr hier als Auftrag von ihrem lyrischen Ich übergeben. Komm’, lösch uns aus.
Danz: Wobei, wenn Sie dann weiterlesen, auch zum Beispiel unseren Trieb zur Liquidität; oder dann kommen die Denkfabriken; und so was alles. Es löscht in der Tat alles aus, weil, wenn man es ernst meinen würde, der Wildnis nachzugehen, dann kommt man tatsächlich an diesen Punkt. Und das Gedicht macht im Grunde nichts weiter, als das konsequent durchzuführen, was in der Idee des Bandes im Konzept angelegt ist.

Ein Phänomen, geradezu für Dichter gemacht

Meyer: Genau. Ich reite auch nur so darauf rum, weil dieses Motiv immer wiederkehrt in Ihrem Buch und auch fast so etwas wie eine Klammer bildet, weil es am Ende des Buches auch noch mal ganz stark wiederkehrt an einem realen Ereignis – da will ich später noch mit Ihnen drüber sprechen. Aber diese Vorstellung, dass die Wildnis oder die Natur zurückkehrt und das, was wir angerichtet haben auf dieser Erde, sich zurückholt, überwächst, das ist doch ganz prägend für ihr Buch. Oder?
Danz: Ja, das durchaus. Dieses Gefühl kommt auch wirklich aus der persönlichen Geschichte der Gegend, in der man aufgewachsen ist. Die war durchaus vom Bergbau geprägt, im Großraum, und hatte auch Kali-Industrie. Und man wusste wohl, dass man mit dem Dünger, den man auf die Felder verteilt, dass man von dem lebt, was man unter der Erde herausholt. Und da muss man gar nicht so weit gehen wie der Band geht, bis in den Nordural, wo dann es dann Einbrüche gibt, Erdrutsche. Alles kommt wieder zurück, aber auf eine Weise, die als Phänomen geradezu, wie für den Dichter gemacht scheint. Also extra, als ob die Natur ihre Metaphern mitliefert. Was natürlich Unsinn ist, denn es braucht den Menschen, sie zu lesen.

Die Rückkehr der Natur

Meyer: Wir sollten wir nicht nur über ihre Gedichte reden, sondern auch mal eines hören. Ich habe Ihnen eins vorgeschlagen, wo sie über die Rückkehr der Natur vergleichsweise sanft formulieren. Das ist das Gedicht "Mythos". Würden Sie uns das vorlesen?
Danz: Ja, das mache ich mal:

Mythos
Die Erzählungen der Ameisen auf ihren Pheromon Gleisen,
die Erzählungen der Bienen in ihren Schwänzeltänzen,
die Erzählungen der abgeknickten Zweige eines Wildwechsels,
die Erzählung der Entwurzelten, der morschen, der von Kerfe durchfurchten Buchenstämme,
die Erzählung der Wolken und des Lichts,
die Erzählung der wandernden Schatten im Sand,
die Erzählung des Nieselregens im Wasser,
die Erzählung der Falten, meiner Hand, der Tonlage meiner Stimme,
die Erzählung des Blicks, mit dem du die Welt betrachtet,
die Erzählung der Welt, ohne dass du sie anschaust.
Weiter und weiter erzählt sich die Welt noch lange, nachdem du und ich und keiner, den wir kannten, mehr zuhört.

Wildnis bei Hölderlin

Meyer: Eins müssen Sie uns erklären, Frau Danz. Wenn man auf den Titel schaut, denkt man: Schreibt sich Wildnis nicht eigentlich anders, nämlich mit "s" am Ende. Bei Ihnen schreibt sich das mit "ß". Wie kommt denn da das "ß" in Ihre Wildnis?
Danz: Das war ein bisschen gewagt, das so auf den Titel zu setzen, weil es in der Tat verunsichert, so dass ich Angst habe, dass manche Menschen es künftig mit "ß" schreiben, das ist die Schreibweise, wie sie Hölderlin im späten 18., frühen 19. Jahrhundert verwendet.
Ich beziehe mich in diesem Band sehr stark darauf, zum einen auf Hölderlin, zum anderen auf diesen Wildnis-Begriff. Wildnis ist bei Hölderlin gerade in den späten Gedichten etwas, gegen das er sich absichern muss, was für ihn eine Bedrohung darstellt in einer Zeit, in der – von Rousseau zum Beispiel bestimmt – Wildnis doch was Paradiesisches geworden war.
Und er selbst fühlt durch seinen psychischen Zustand, aber auch dadurch, dass er die Umbrüche in seiner Zeit sehr stark wahrnimmt, tatsächlich diesen Zwiespalt zwischen dem, dass Wildnis ihn natürlich als Dichter interessiert, auch das Chaos und das Lebendige, Ungeordnete, aber auf der anderen Seite ihn wirklich real bedroht.
Meyer: Das ist ja dann auch eine gesellschaftliche Wildnis, die auch auftaucht in einem Kapitel. Das haben Sie die "Wildnis der Rede" genannt. Was ist denn die Wildnis der Rede aus Ihrer Sicht?

Wildnis der Corona-Pause

Danz: Richtig, darum ging es mir auch. Der Naturaspekt ist das eine. Das andere ist aber eine gesellschaftliche Entwicklung, die man in den letzten, vielleicht zehn Jahren beobachten konnte, die in anderen Gesellschaften als der Deutschen sogar noch ein bisschen stärker ist. In Russland sind alle Regale voll mit Büchern, wie ich mir am besten Wolfshunde oder Wölfe halte. Und das ist allenthalben auch eine Sehnsucht nach der Gefahr; danach, Extremsituationen zu spüren; und gleichzeitig auch einen Hang zum Rohen und Ungeschliffenen.
Zum Beispiel äußert sich das natürlich in Sprache. Das ist jetzt nicht wertend, also positiv wie negativ. Es äußert sich in Sprache dadurch, dass ich zum Beispiel kurze Sätze habe, dass ich direkter werde, dass ich, was aber auch eine ältere Tendenz ist, Sachen aus der Gossensprache mit hineinnehme in die Hochsprache und das vermische; aber auch dadurch, dass manche Menschen chaotische Zustände durch Sprache herzustellen versuchen.
Meyer: Sie haben auch vier Corona-Gedichte in dem Band. In einem dieser Corona-Gedichte taucht noch eine weitere Wildnis-Form auf – wieder zu meinem Erstaunen – nämlich eine Wildnis der Pause. Was ist eine Wildnis der Pause?
Danz: Die Corona-Gedichte in diesem Band sind echt last minute, die sind noch kurz vor Druck reingekommen. Und die Pause, das war die Pause, in der sie damals entstanden sind – diese Zeit im März, April. Die Pause bezieht sich auf den Begriff "Corona", der der ältere Begriff für die Fermate, für die Pause in der Musik, ist. In einer Pause kann alles entstehen: Ordnung und Chaos sind darin verbunden, und man weiß nicht, was nach der Pause ausbricht. Man weiß nicht, was sich in einer Pause geformt hat und was aus ihr hervorgeht. Es ist die Leerstelle schlechthin, die wir nicht im Griff haben und insofern die Wildnis, die sich in dieser Leerstelle entwickelt.

"Stadt der Avantgarde" im Nordural

Meyer: Man hört, worüber wir alles schon geredet haben: Natur, zurückgelassene Technik in der Natur, die Wildnis der Rede, die Wildnis der Pause. Ihr Buch ist ganz reich an Erfahrungen und an Welt, die eingegangen ist in ihre Gedichte. Es gibt auch ganz viel Technologie, die man vorfindet in ihren Gedichten. Und besonders am Ende ihres Bandes, da gibt es ein Langgedicht, dass ist gut zehn Seiten lang. "Stadt der Avantgarde" schlägt auch wieder einen Bogen zurück zu diesem Gedicht am Anfang Buches, worüber wir vorhin gesprochen haben. Was ist denn die Stadt der Avantgarde? Und wie haben Sie die kennengelernt?
Danz: Die "Stadt der Avantgarde" ist ein Titel, der in dieser Stadt, die ich meine, nämlich Beresniki im Nordural, noch nördlich von Perm, am Eingang dieser Stadt so genannt ist. Dabei ist Beresniki im Grunde jetzt das Gegenteil. Aber es hat natürlich auch was, das wörtlich zu nehmen. Sie ist 1932 gegründet, also keine hundert Jahre alt, als Mono-City, also zur Versorgung der dort befindlichen Kali-Mine mit Arbeitskräften.
Und das war und ist jetzt der Hauptarbeitgeber der Stadt. Aber über die Jahre ist Wasser in die Mine gedrungen durch Havarien, es gibt Methangasblasen. Wir kennen das durchaus auch von Deutschland, muss man sagen. Wobei die Situation in Russland noch mal eine andere ist.
Und jetzt wohnen die Bewohner dieser Stadt, die von der Kali-Industrie leben auf dieser unterhöhlten Stadt, wo sich immer mal Löcher auftun, durch Absenkungen und Tagesbrüche, wo Teile der Stadt, also Häuser, in den Unterraum hineinfallen. Die Kirche steht auch schon schief.
Meyer: Das ist so ein Vorgang, wo das, was der Mensch in der Natur getan hat – die Erde auszuhöhlen –, jetzt auf ihn zurückfällt. Meinen Sie in dem Sinn auch, dass es eine Stadt der Avantgarde ist, die ein bisschen zeigt, was uns in einem größeren Maßstab überall auf der Welt bevorstehen könnte?
Danz: Ja, in der Tat, das ist wirklich wie eine Art Metapher – und etwas, woran der jetzige Mensch schuldig und unschuldig ist. Der Einzelne, der dort wohnt, dort seine Arbeit hat, dort hineingeboren wird, der ist natürlich auch in großem Maße unschuldig.
Aber dann sind wir alle natürlich auch alle schuldig, indem wir mitmachen an dem eigenen Unglück, im Übrigen nur an der Vernutzung der Natur, sondern in dem Moment bekommt der Mensch es ja auch unmittelbar zu spüren. Und dieses Gefühl, dass man drinhängt, dass es etwas Schicksalhaftes hat, dass man auch den Nutzen davon hat und eben den Nachteil - das Gefühl hat mich an der Stadt sehr fasziniert, weshalb ich da eben 2018 hingereist bin zu einer Recherchereise.

Daniela Danz: "Wildniß"
Wallstein Verlag, Göttingen 2020
86 Seiten, 18 Euro

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