Dachauer Prozesse

Das fast vergessene Verfahren gegen Nazi-Schergen

11:12 Minuten
Blick von unten über einen Zaun mit Stahlgeflecht und Jahreszahlen auf dem Gelände des ehemaligen KZs Dachau. Zu sehen ist eines der Gebäude.
Ort des Verbrechens - heute eine wichtige Gedenkstätte: das Gelände des ehemaligen KZs Dachau. © Deutschlandradio / Thies Marsen
Von Thies Marsen · 24.11.2022
Audio herunterladen
Wenn von den NS-Verbrechen die Rede ist, fallen einem sofort die Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse ein. Dass auch die Dachauer Prozesse eine wichtige Rolle bei der Verfolgung der Täter spielten, ist heute vielen kaum bekannt.
"Genau vier Monate, nämlich vom 11. April bis zum 11. August dieses Jahres, verhandelte das amerikanische Militärgericht hier in Dachau bei München gegen 31 Angeklagte der Wachmannschaften des Konzentrationslagers Buchenwald. Hier in diesem Saal empfanden wir so oft das Unvorstellbare aus einer Zeit, die noch gar nicht lange hinter uns liegt: die Schmach der Konzentrationslager in Deutschland.“

So klang eine Reportage zur damaligen Zeit.
Der 14. August 1947. Ein unverputzter Ziegelbau auf dem Gelände des einstigen Konzentrationslagers Dachau. Die Militärregierung der US-amerikanischen Besatzungszone hat hier einen provisorischen Gerichtssaal eingerichtet.

31 Angeklagte – 22 Todesurteile

De Saal ist völlig überfüllt. Journalisten aus der ganzen Welt sind angereist, dazu Regierungsvertreter aus Frankreich, der Tschechoslowakei, Polen und Belgien. Hinter dem Richtertisch prangt eine US-Fahne.
Links davon ein Podest, auf dem die 31 Angeklagten sitzen, Nummernschilder um den Hals. Ihnen werden schlimmste Verbrechen vorgeworfen: Sie sollen im KZ Buchenwald Menschen gedemütigt, gequält, ermordet haben. Das Urteil haben die Richter schon vor zwei Tagen gefällt: Alle 31 sind schuldig.
Ein Mann in dunklem Hemd und Jackett steht vor einer großen Fototafel mit einem unvollständigen Schriftzug. Es ist Christoph Thonwald, Leiter der Wissenschaftlichen Abteilung der Gedenkstätte Dachau in Bayern.
Die Dachauer Prozesse waren auch deshalb so wichtig, weil dort Verbrechen in vielen verschiedenen Konzentrationslagern verhandelt wurden, sagt Christoph Thonfeld, Leiter der Wissenschaftlichen Abteilung der KZ-Gedenkstätte Dachau.© Deutschlandradio / Thies Marsen
Das Strafmaß wird verkündet: 22 Todesurteile, fünf Mal lebenslänglich, vier zeitlich begrenzte Haftstrafen – so die Urteile im Buchenwald-Hauptprozess. Es ist eines der größten Verfahren im Rahmen der sogenannten Dachauer Prozesse.

Es ging auch um Kriegsgefangene

„Es wurden hier nicht nur Verbrechen im KZ Dachau und den Außenlagern verhandelt, sondern auch in vier anderen Konzentrationslagern, die von den USA befreit wurden, also Buchenwald, Mittelbau-Dora, Flossenbürg und Mauthausen", erläutert Christoph Thonfeld. Er ist Leiter der wissenschaftlichen Abteilung der KZ-Gedenkstätte Dachau.
"Ein herausgehobenes Verfahren war das sogenannte Malmedy-Verfahren, wo es um die Erschießung amerikanischer Kriegsgefangener und belgischer Zivilisten ging. Über 300 amerikanische Kriegsgefangene wurden ermordet. Man muss sich auch vor Augen halten: Es gab fast 3500 Ermittlungsverfahren wegen Kriegsverbrechen, und es sind aber nur 461 durchgeführt worden. Und Angeklagte, insgesamt waren es 1912.“   

Heute kaum noch im öffentlichen Bewusstsein    

Alleine in Dachau waren zeitweise bis zu 30.000 Internierte. Trotzdem sind die Dachauer Prozesse heute kaum im öffentlichen Bewusstsein. Von Beginn an stehen sie im Schatten der sogenannten Nürnberger Prozesse, bei denen sich die Führungselite Nazi-Deutschlands verantworten muss – vom Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess bis zum Reichsmarschall Hermann Göring.
"Und hier vor Ort hatten wir es dann tatsächlich mit eher Tätern der dritten oder vierten Reihe in der Hierarchie zu tun, die an Misshandlungen und Tötung von Häftlingen beteiligt waren", sagt Thonfeld.

Nicht nur der große Schatten von Nürnberg ist schuld daran, dass die Dachauer Prozesse kaum bekannt sind. Ihr bloßer Umfang – Tausende Ermittlungsverfahren, Hunderte Angeklagte – zeigt eben auch: Für die nationalsozialistischen Massenmorde ist nicht nur eine kleine Führungsclique verantwortlich, sondern unzählige Deutsche haben sich schuldig gemacht.

Diffamiert als angebliche Siegerjustiz

Genau das aber will die deutsche Öffentlichkeit lange Zeit nicht wahrhaben, weshalb die Prozesse weitgehend ignoriert oder als angebliche Siegerjustiz diffamiert werden, sagt Gabriele Hammermann, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau.

Man hat von Anfang an diese Prozesse versucht zu diskreditieren, um sich mit der eigenen Schuld nicht auseinanderzusetzen. Das ist, glaube ich, ein ganz, ganz wichtiges Moment dieser unmittelbaren Nachkriegszeit. Und es hat ja wirklich mehr oder weniger zwei Jahrzehnte gedauert, bis zu den Auschwitz-Prozessen, den Einsatzgruppen-Prozessen, bis dieses Thema der Verstrickung sehr vieler Deutscher in das KZ-System nicht mehr ausgeschlossen werden konnte.

Gabriele Hammermann, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau

Um die Dachauer Prozesse ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, hat die KZ-Gedenkstätte eine Sonderausstellung konzipiert. Gezeigt wird sie im einstigen Wirtschaftsgebäude des KZ. Dabei wäre der eigentliche Ort des Geschehens, der Ziegelbau, in dem einst das Militärtribunal tagte, durchaus noch vorhanden.
Blick in eine Ausstellungshalle der Gedenkstätte Dachau. Dort sind viel Aufsteller gruppiert, die über die Verbrechen der Nationalsozialisten in dem ehemaligen Konzentrationslager informieren.
Der Fokus von Medien und Öffentlichkeit lag meist auf den Nürnberger Prozessen. Doch leistete die Aufarbeitung in den Dachauer Prozessen ebenso wichtige Arbeit. Die Gedenkstätte Dachau dokumentiert die Verbrechen.© Deutschlandradio / Thies Marsen
Doch das Gebäude befindet sich auf dem einstigen SS-Übungsgelände des KZ Dachau, und das wird seit Jahrzehnten von der bayerischen Bereitschaftspolizei genutzt. Nur in absoluten Ausnahmefällen ist es für die Öffentlichkeit zugänglich.

Theateraufführung im Prozessgebäude

„In dem Prozessgebäude, ja, da gab es ja auch eine Theateraufführung vor sechs Jahren, die sehr, sehr eindrucksvoll war, weil auch das gesamte Gelände des früheren SS-Bereichs in dieses Theaterstück mit eingebunden worden ist", berichtet Hammermann.
"Es gibt eine in Ölfarbe aufgetragene Karte mit den großen Konzentrationslagern. Die ist allerdings bei einem Durchbruch in Teilen beschädigt worden, aber größere Teile davon existieren noch. Und das ist natürlich enorm eindrucksvoll.“

Gerne würde Gabriele Hammermann Teile des einstigen SS-Lagerbereichs in die Gedenkstätte integrieren. Seit Jahren liegt ein fertiges Konzept für Neugestaltung und Erweiterung der KZ-Gedenkstätte Dachau vor, doch das Projekt kommt kaum voran.

Neue Hauptausstellung geplant

Geplant ist auch eine neue Hauptausstellung: Darin sollen die Dachauer Prozesse breiteren Raum einnehmen als bisher, betont Hammermann.

„Das wird in dieser zukünftigen Ausstellung, die wir vorhaben, im ehemaligen Wirtschaftsgebäude, doch eine sehr viel größere Rolle spielen. Wie insgesamt die Zeit nach 1945, weil es uns wichtig ist, auch deutlich zu machen, wie die deutsche Gesellschaft mit diesem Thema umgegangen ist, wie schwierig dieser Weg zur KZ-Gedenkstätte Dachau war.“

Tatsächlich ist die Geschichte der Gedenkstätte eng mit den Dachauer Prozessen verwoben: Hammermanns Vorvorgängerin Ruth Jakusch, geborene Eisenberg, die erste Leiterin der KZ-Gedenkstätte, arbeitete als Dolmetscherin für das Tribunal. Dort lernte Eisenberg, die als Jüdin nach England emigriert war, ihren späteren Ehemann Hugo Jakusch kennen.

Aus zwei ehemals Verfolgten wird ein Paar

Friedbert Mühldorfer von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes war den beiden jahrzehntelang eng verbunden:

„Und dann kommt es fast wie in einem Märchen: Nämlich der Häftling, der als Zeuge gefragt ist, der von seinem Leiden berichtet, und die Immigrantin, die zurückkommt, jetzt als Dolmetscherin aufseiten der Alliierten, der Siegermacht. Das hat Ruth auch später immer wieder erzählt, dass es für sie ganz wesentlich war, einfach diese authentischen Stimmen zu hören.“

Eine enorme Bedeutung haben die Dachauer Prozesse auch für die ehemaligen Häftlinge selbst. Zwar befasst sich das Militärtribunal aus juristischen Gründen vor allem mit Verbrechen, die die Nazis während des Krieges an Bürgern der Alliierten verübt haben.
Die Vorkriegsjahre dagegen, als die Konzentrationslager vor allem der Vernichtung des politischen Widerstands in Deutschland dienten, der Sozialisten, Kommunisten und Gewerkschafter, werden in den Prozessen kaum behandelt. Dennoch kommen auch viele deutsche Nazi-Opfer zu Wort.

Zentrale Bedeutung für die Überlebenden

„Es sind mit den Prozessen, die hier stattgefunden haben, auch erst die Zeugnisse gesammelt worden und zumindest in Teilen dann auch der Öffentlichkeit bekannt gegeben worden", erläutert Mühldorfer.
"Für die Häftlinge hatte das eine ganz zentrale Bedeutung, weil sie das erste Mal sozusagen in einer ganz neuen Situation an dieser Stelle hier eine Funktion gehabt haben. Sie waren die Zeugen schlechthin, die auch gehört worden sind und denen man mit Würde begegnet ist.“

Schon bald aber schwindet auch bei der US-Militärregierung das Interesse an der juristischen Aufarbeitung deutscher Verbrechen. Denn mit dem Aufkommen des Kalten Krieges wird Westdeutschland als Verbündeter gegen die kommunistischen Staaten Osteuropas immer wichtiger.

Immer mildere Strafen verhängt

Je länger die Prozesse dauern, desto milder fallen die Strafen aus. Im letzten der Dachauer Prozesse um das KZ Mittelbau-Dora, der am 30. Dezember 1947 endet, wird nur noch einer der Angeklagten zum Tode verurteilt.
Zahlreiche Todesurteile werden schließlich in Haftstrafen umgewandelt. Unterdessen solidarisieren sich weite Teil der deutschen Öffentlichkeit – Kirchen, Presse und Parteien – offen mit den verurteilten Kriegsverbrechern, die in der Haftanstalt Landsberg inhaftiert sind.

Wichtige Aufarbeitung

Im Laufe der 1950er-Jahre werden die allermeisten amnestiert, kein einziger der zu lebenslanger Haft verurteilten NS-Verbrecher muss seine Strafe tatsächlich bis zum Ende absitzen.
Und dennoch waren die Dachauer Prozesse insgesamt ein Meilenstein, betont Christoph Thonfeld von der KZ-Gedenkstätte Dachau: Um deutlich zu machen, dass "in unglaublichem Maße Verbrechen begangen worden sind". Dies aufzuarbeiten, sei in jedem Fall wichtig und richtig.
Mehr zum Thema