D-Day für Nahost

Von Sebastian Engelbrecht und Torsten Teichmann · 15.09.2011
Noch in diesem Monat wollen die Palästinenser bei den Vereinten Nationen die Aufnahme ihres Gebiets als Vollmitglied beantragen, so sagen sie es bisher. Sollten sie damit scheitern, könnte eine Welle der Gewalt im Westjordanland die Folge sein.
So hat allein die Ankündigung in Europa, den USA, Israel und auch bei vielen Palästinensern für Aufregung gesorgt. Politisch wird seitdem hinter den Kulissen an einem Kompromiss gefeilt. Aber kann das gelingen? Warum stellt sich Israel dagegen?

Instrumente stimmen. Immer wieder. Es dauert ein wenig, bis das Orchester im Konzertsaal von Ramallah zueinander gefunden hat. Es sind ausnahmslos junge Musiker, die an diesem Abend spielen. Die Frauen auf der Bühne tragen lange schwarze Haare, zum Teil hochgesteckt. Die Jungs haben Stoppelschnitt, die Älteren von ihnen dagegen eine Frisur wie in Berlin-Mitte. Von der zehnten Reihe aus betrachtet, sehen sie alle aus wie die Mitglieder eines deutschen Jugendorchesters.

Vielleicht sehen aber junge Musiker auf der ganzen Welt so aus, und es ist einfach dumm anzunehmen, sie müssten anders wirken, weil sie Palästinenser sind. Aber dann geht es auch schon los. Ein Palästinenser in der gleichen Reihe lehnt sich noch schnell hinüber und flüstert: Die sollten wir mitnehmen nach New York, zur Vollversammlung der Vereinten Nationen.

Um Freiheit und Selbstbestimmung geht es den Palästinensern seit fast 63 Jahren, seit der Teilung des britischen Mandatsgebiets. Sie haben versucht ihr Ziel durch Allianzen mit ausländischen Mächten zu erreichen, mit Gewalt und mit Verhandlungen.

Jetzt soll eine Aufnahme in die Vereinten Nationen die staatliche Anerkennung bringen. Und damit auch die ersehnte Freiheit. Wie bereitet sich die palästinensische Führung darauf vor und was setzt Israel entgegen? Warum sind israelische Siedler überzeugt davon, sie könnten im palästinensischen Westjordanland bleiben? Und warum glauben nicht alle Palästinenser an eine Entscheidung in New York? Gibt es einen Weg nach Palästina?

Ramallah boomt. Unzählige Geschäftshäuser und Wohnblöcke wachsen in den Himmel, kürzlich kam ein monströser Hotel-Komplex dazu – die Filiale einer internationalen Edel-Hotelkette. Im Zentrum ist ein repräsentativer Präsidentenpalast aus glattem Kalkstein gerade fertig geworden. Auf einer Brachfläche gegenüber vom Palast hat jemand eine große palästinensische Fahne in den Boden gerammt.

Am Rand des Grundstücks flattern 122 Fahnen - die Flaggen der Länder, die den Staat Palästina bereits anerkannt haben. Die Zeichen und Symbole sind nicht zu übersehen. Für Husam Zomlot von der regierenden Fatah-Partei ist klar: Mit der Initiative der Palästinenser, ihren Staat bei den Vereinten Nationen anerkennen zu lassen, beginnt ein neues Kapitel der Geschichte.

Zomlot: "Wir wollen ein Vollmitglied der internationalen Gemeinschaft sein. Wir wollen zur Menschenfamilie dazugehören. Wir wollen nicht am Rand sitzen."

Husam Zomlot, 39 Jahre alt, strahlt Dynamik aus. Er trägt ein frisches blau-weißes Streifenhemd, blaue Krawatte, ein kurz geraspeltes Bärtchen um den Mund, redet schnell, fast hastig, und macht einen Witz nach dem anderen. Zomlot zieht Strippen für die Fatah-Partei, als Geschäftsführer der Kommission für internationale Beziehungen.

Er kommuniziere in diesen Tagen "mit jeder Kreatur auf dem Planeten", sagt Zomlot - mit den Spitzen der SPD in Berlin, mit Beratern der deutschen Kanzlerin Merkel, mit der Sozialistischen Internationale, mit Menschenrechtsorganisationen in aller Welt – um Werbung zu machen für das palästinensische Großprojekt bei den Vereinten Nationen. Werbetouren dieser Art – per Telefon oder per Flugzeug – haben viele palästinensische Spitzenpolitiker hinter sich – von PLO-Chef Abbas bis zum Kommissionssekretär Zomlot.

Zomlot: "Die Zeit ist reif. Das ist unser Moment, wie kürzlich in Libyen, wie in Ägypten vor einigen Monaten, wie hoffentlich in Syrien und in allen arabischen Völkern um uns herum. Das ist unser Moment, das ist unser Rendez-vous mit der Freiheit, mit der Würde, in dem wir unser Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen, in dem wir diese Ungerechtigkeit und Besatzung beenden."

Noch dichter dran an den eifrigen Planern der palästinensischen Unabhängigkeit ist Mohammad Shtayyeh, Mitglied im Zentralkomitee der Fatah. Er gehört zum Planungsteam der Palästinensischen Befreiungsorganisation für das große Vorhaben bei den Vereinten Nationen. Die PLO vertritt die Palästinenser bis heute bei den Vereinten Nationen.

Zugleich organisiert Shtayyeh die Gründerzeit in Ramallah. Für eine staatliche Entwicklungsgesellschaft plant der frühere Bau-Minister das Regierungsviertel mit Ministerialkomplexen, Hubschrauberlandeplatz und einem Nationalstadion. Es war die internationale Gemeinschaft, die die Palästinenser dazu ermutigt hat, die Gründung des Staates so emsig vorzubereiten – und sie für diesen Herbst ins Auge zu fassen. US-Präsident Barack Obama sagte vor einem Jahr, im September 2010 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen:

"Wenn wir nächstes Jahr hierher zurückkommen, können wir schon ein Abkommen haben, das zu einem neuen Mitglied der Vereinten Nationen führen wird: einen unabhängigen, souveränen Staat Palästina, der in Frieden mit Israel lebt."

Aber der neue Anlauf in den Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern scheiterte schon drei Wochen nach dem Auftakt am 1. September 2010 in Washington. Die Palästinenser waren nicht bereit, weiter zu verhandeln, solange Israel den Siedlungsbau im Westjordanland fortsetzt.

Seither planen die Palästinenser ihren Staat ohne Rücksicht auf israelische Bedenken. In der Generalversammlung ist den Palästinensern eine Zweidrittelmehrheit der Mitgliedsstaaten traditionell sicher. Am Ende könnte die Generalversammlung den Palästinensern den Status eines "Nichtmitglieds-Staates" verleihen. Die Palästinenser könnten dann dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag beitreten und dafür sorgen, dass potenzielle israelische Kriegsverbrecher angeklagt werden.

Es scheint, als stehe ganz Palästina geschlossen hinter der Initiative des palästinensischen Präsidenten und PLO-Vorsitzenden. Sogar die Islamisten von der Hamas, die in Konkurrenz zu Abbas den Gaza-Streifen regieren, unterstützen die Initiative. Achmed Jusef, ein führender Intellektueller der Hamas in Gaza, applaudiert den Kollegen in Ramallah:

"Ich finde, wir hätten uns schon viel früher an die UN wenden sollen. Nach dem Scheitern des Oslo-Prozesses hätten die Palästinenser die UN-Generalversammlung schon längst darum bitten sollen, den Staat Palästina anzuerkennen. Was auch immer erreicht werden wird – es gibt den Palästinensern Moral und Auftrieb für ihren Kampf gegen die Besatzung."

Ofra ist eine jüdische Siedlung im Westjordanland, also auf palästinensischem Gebiet. Wer neben dem kleinen Wachhäuschen am Eingang des umzäunten Gebietes einfährt, wird angehalten. Der Wachmann schaut, fragt und winkt die Besucher durch. Das Ziel der Fahrt ist eine Friedenskonferenz von religiösen, jüdischen Siedlern. Der junge Rabbi Schivi Fromann ist einer der Organisatoren dieser ungewöhnlichen Veranstaltung.

Fromann: "Es gab mal eine Parole der Rechten: Keine Araber, keine Anschläge. Aber es gibt Araber. Es gibt Araber. Man muss lernen, mit ihnen zu leben. Man muss einen Weg finden, dass es keine Anschläge gibt, obwohl es Araber gibt. Und auf der palästinensischen Seite sind die Parolen nicht weniger schlimm. Die Siedler werden dämonisiert. Aber nach und nach verinnerlichen auch sie, dass es hier Siedler gibt und dass sie nicht verschwinden werden."

Die versammelten Anhänger der Siedler-Bewegung in Ofra wollen aus religiösen Gründen nicht mehr gehen. In Israel wird das Westjordanland meist Judäa und Samaria genannt – biblische Bezeichnungen, die deutlich machen sollen, dass hier vor Jahrtausenden Juden gelebt haben. Auch wenn der Anspruch heute nur mit Gewalt gegen die Palästinenser durchgesetzt werden kann.

Der israelische Staat brauche aber auch die Siedler, um das Westjordanland und die Palästinenser zu kontrollieren, sagte einmal der Menschenrechtsaktivist Dror Etkes. Auf Karten ist zu sehen: Siedlungen und Checkpoints der israelischen Armee teilen das Westjordanland. Tief in das palästinensische Gebiet schneidet zudem der Sperrwall, der nach israelischen Angaben der Abwehr von Terroristen dient. Bei der Konferenz der religiösen jüdischen Siedler in Ofra gibt es dazu kein Wort.

Vor dem Konferenzzentrum in Ofra sitzen französische Anhänger der Siedler-Bewegung. Sie sind sich uneins, was jetzt im Herbst passieren wird. Und auch Rabbi Fromann glaubt nicht an einen Erfolg der Palästinenser in New York. Sein Vater hatte zwar erklärt, er könne sich als Siedler auch vorstellen, mit einem palästinensischen Pass zu leben. Aber der Sohn ist deutlich skeptischer.

Siedler: "Ich denke, dass sie einen großen Fehler machen. Ein palästinensischer Staat, der gegen den Willen Israels gegründet wird, das wird natürlich ein Staat sein, der schlecht für die Juden ist, schlecht für uns. Aber auch schlecht für die Palästinenser. Die Palästinenser wollen ja einen demokratischen Staat, moslemisch, aber demokratisch. Wenn das nicht Hand in Hand mit Israel geschieht, dann wird daraus sehr schnell ein Hamasstan oder Iranstan."

Auch die israelische Regierung will eine Hamastan im Westjordanland verhindern. Aber es fehlen ihr die Ideen, mit dem gewaltlosen Mittel der Palästinenser umzugehen. Benjamin Netanjahu und sein Außenminister Avigdor Liebermann beschränkten sich darauf, in befreundeten Ländern gegen die palästinensische Initiative zu werben. So reiste Netanjahu zum Beispiel nach Rumänien und Bulgarien, Liebermann besuchte Albanien – ungewöhnliche Ziele für die israelische Staatsführung.

In Interviews wiederholte Netanjahu gebetsmühlenartig, er sei "sofort" oder "schon morgen" zu direkten Verhandlungen mit den Palästinensern bereit. Das einseitige Vorgehen des Palästinenserpräsidenten werde nicht zum Frieden führen. Regierungssprecher Mark Regev sieht darin sogar einen Verstoß gegen die Osloer Verträge, die Israel und die Palästinenser vor 17 Jahren abgeschlossen haben.

Regev: "In den Oslo-Verträgen, in den Verträgen, die zwischen den Israelis und den Palästinensern vor fast 20 Jahren unterschrieben wurden, haben sich die Palästinenser verpflichtet, dass alle ungeklärten Themen in direkten Verhandlungen besprochen und geklärt werden. Und hier sehen wir, dass die Palästinenser sich eigentlich nicht an ihre Verpflichtung halten."

Und so drohen Teile der israelischen Regierung, die Osloer Verträge aufzukündigen, wenn die Palästinenser vor die Vereinten Nationen ziehen sollten. Außenminister Avigdor Liebermann und Infrastruktur-Minister Uzi Landau von der rechtspopulistischen Partei "Unser Haus Israel" wäre es recht, auf diese Weise die Verpflichtungen aus den Abkommen mit den Palästinensern loszuwerden.

Mehr noch: Wenn sich die Palästinenser mit der Bitte um Anerkennung ihres Staates an die UN wenden sollten, werde Israel Siedlungsblöcke im Westjordanland annektieren, kündigte Minister Landau an. Diese und andere Drohhungen zeigen die Hilflosigkeit der israelischen Regierung angesichts der palästinensischen Initiative – und angesichts der wahrscheinlichen Niederlage. Israel werde bei der Abstimmung in der Generalversammlung mit Sicherheit verlieren, meint Barak Ravid von der Zeitung "Ha’aretz".

Ravid: "Israel wird isoliert sein. Es wird ihm meiner Ansicht nach nicht gelingen, mehr als zehn Staaten zu organisieren, die dagegen stimmen. Das wird ein großer Sieg für die Palästinenser und eine diplomatische Niederlage für Israel."

Die drohende Niederlage deutet Regierungssprecher Mark Regev schon jetzt positiv um.

Regev: "Was wir suchen, ist nicht eine zahlenmäßige Mehrheit, sondern wir wollen eine moralische Mehrheit. Wir wollen nach der Entscheidung sagen können, dass die Mehrheit der demokratischen Staaten, der westlichen Staaten, der Staaten, die in den Friedensprozess involviert sind - sich geweigert haben, die einseitige Eingabe der Palästinenser zu unterstützen. Für uns wird das der moralische Sieg sein."

Und überhaupt, meint Regev, die Resolution der Generalversammlung sei am Ende nicht viel wert. Sie werde "zahnlos" sein wie viele propalästinensische Resolutionen, und sie werde am Boden nichts bewirken.

Gibt die Aufnahme eine palästinensischen Staates in die Vereinten Nationen den Musikern in Ramallah die Freiheit, gemeinsam zu studieren und zu proben? Denn bisher haben die Musiker aus den verschiedenen palästinensischen Städten des Westjordanlandes, aus arabischen Staaten oder gar aus dem Gaza-Streifen durch die Besatzung, Restriktionen und Checkpoints große Mühe zusammen zu kommen.

Allein wird es den Palästinensern nicht gelingen, die Freiheit zurückzugewinnen. Deshalb gehen sie ein weiteres Mal nach New York. Sie suchen Hilfe beim Versuch, die uralten Probleme der Teilung des Mandatsgebiets Palästina zu lösen und die israelische Besatzung zu beenden. Eine Abstimmung vor den Vereinten Nationen sei der richtige Weg, sagt die Kulturmanagerin Rania Elias in Ramallah.

Elias: "Es ist die einzige Möglichkeit von der internationalen Gemeinschaft zu fordern, Verantwortung für die Palästinenser zu übernehmen. Das ist der Weg, die internationale Gemeinschaft zu erreichen, damit sie sieht, was hier geschieht. Und wir verdienen einen Staat. Verdienen anerkannt zu werden als unabhängiger Staat der Palästinenser."
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