"Wenn es keinen Frieden gibt im Nahen Osten, ist es schlecht für die Welt und schlecht für Europa"

10.06.2011
Der ehemalige israelische Parlamentssprecher Avraham Burg fordert von Israel und vom Westen eine offenere Verhandlungsbereitschaft für Gespräche um einen künftigen Palästinenserstaat.
Marietta Schwarz: Die Friedensverhandlungen im Nahen Osten stocken seit Monaten, und einige Beteiligte scheinen langsam die Geduld zu verlieren. Man kann nicht ewig verhandeln, sagte Palästinenser-Präsident Abbas im Mai. Er bittet die Vereinten Nationen um die Anerkennung eines unabhängigen Palästinenserstaates. Der israelische Präsident Netanjahu begeisterte zwar das US-Repräsentantenhaus mit seiner Rede zur Entwicklung im Nahen Osten, die palästinensische Seite aber war umso mehr enttäuscht. Am Telefon ist Avraham Burg, israelischer Autor und vormals Politiker, unter anderem als Berater von Premierminister Peres, als Sprecher der Knesset und sogar als provisorischer Präsident im Jahr 2000. Seit 2004 hat er sich aus der Politik zurückgezogen, ist aber weiterhin politisch aktiv. So wirbt er zurzeit in Europa für die uneingeschränkte Anerkennung Palästinas bei der UN-Vollversammlung im September. Guten Morgen, Herr Burg, good morning!

Avraham Burg: Good morning!

Schwarz: Haben Sie den Glauben an Friedensverhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern unter den gegebenen Bedingungen verloren?

Burg: Wissen Sie, wenn Sie sich die Situation anschauen, was die Aktualität angeht, dann sieht alles unmöglich aus. Da ist die Frage nicht, was ist jetzt möglich, aber was brauchen wir? Und zurzeit, was sie brauchen, ist Frieden. Und die Leute dort müssen motiviert werden. Deshalb ist alles, was in der UNO jetzt verhandelt wird, was da zur Abstimmung kommt, wie eine Einmischung, wenn man – wir reden hier von Erwachsenen, die Verantwortung haben.

Schwarz: Hat sich Netanjahu im Nahostkonflikt nicht bewegt, Ihrer Meinung nach?

Burg: Es ist sehr schwierig für mich, über Netanjahu zu reden, weil ich in der Opposition zu seiner Position stehe, und ich verstehe nicht wirklich, was er gerade tut. Mein Gefühl ist, dass in seiner Tiefenpsychologie … er möchte nichts tun, und das Problem soll einfach verschwinden. Aber die Realitäten sind solche, dass das Problem nicht verschwindet. Und deshalb, ob er es mag oder nicht und ob er es kann oder nicht, ist irrelevant, die Frage ist: Kann die Welt ihn sehen lassen, was für eine Situation dort ist, die Situation im Nahen Osten für Israel? Ist es möglich, ihn zu überzeugen oder ihn dazu zu zwingen, weiterzukommen? Und ich denke, ja, die Welt kann das tun.

Schwarz: Bei seinem Besuch in Washington wurde der israelische Ministerpräsident ja geradezu gefeiert im Repräsentantenhaus, während Präsident Obama eher auf Distanz zu Israel geht. Was sagt Ihnen das über das Verhältnis USA/Israel?

Burg: Hier gibt es zwei Dimensionen. Es gibt keinen Zweifel, dass das israelische politische System und das amerikanische politische System sehr nahe zueinander stehen, aber diese Standing Ovations im Capital Hill für den Premierminister, das ist ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, das ist eher so, dass Amerika und Israel beste Freunde sind, aber die isoliertesten Nationen im Westen. Und wenn man sich gegenseitig applaudiert, dann hilft das nicht wirklich den Problemen. Und hier ist Europas Rolle absolut entscheidend und wichtig. Europa kann es aus einem anderen Blickwinkel sehen, ist näher dran, und die USA und die Israelis, auch wenn sie sich gegenseitig so bewundern – und das ist eine gegenseitige Bewunderung, wie ein Club. Was die Welt braucht, ist etwas anderes, und Europa muss da auch eine andere Position vertreten. Weil wir haben ja auch Probleme zwischen Emigranten und den alteingesessenen Europäern. Wir sehen es in Libyen, im Nahen Osten, und dann sehen wir es in dem Konflikt zwischen Israel und Palästina. Wenn es keinen Frieden gibt im Nahen Osten, ist es schlecht für die Welt und schlecht für Europa, und die USA kann nicht sich da ewig heraushalten.

Schwarz: Vor Kurzem haben sich palästinensische Hamas und Fatah ausgesöhnt, und die Hamas – wurde jetzt gerade vermeldet – will möglicherweise auch nach einem Wahlsieg von einer Regierungsbeteiligung absehen. Was vollzieht sich denn da gerade auf palästinensischer Seite?

Burg: Ich bin Israeli, es ist nicht meine Rolle und es ist nicht meine Pflicht, für die Palästinenser zu definieren, wer sie repräsentiert. Das ist in der Struktur der palästinensischen Gesellschaft. Ich kann es nicht ignorieren, ich kann davor nicht fortrennen. Wenn man sich dabei bedenkt, dass im Nahen Osten heute die die Extremisten sind, die morgen die moderaten sein werden, weil wenn morgen der globale Islam übernimmt oder El Kaida, dann dürfen wir auch eine Sache nicht vergessen: Die Wahlen in Gaza vor einigen Jahren kamen trotz des Willens der palästinensischen Autoritäten mit einer sehr aggressiven Politik von Bush, und das kam dabei heraus. Also wir müssen sehr vorsichtig sein. Wir können nicht auf der einen Seite sagen, wir wollen nicht verhandeln mit den Palästinensern in der West Bank, weil sie nicht Gaza haben, aber wenn sie dann Gaza haben, können wir nicht sagen, wir können nicht mit euch reden, weil ihr Gaza haltet. Es gibt ein palästinensisches Volk, und das ist nicht einfach, aber es ist nötig, mit ihnen zu reden.

Schwarz: Was könnte denn die Anerkennung eines Palästinenserstaates durch die Vereinten Nationen bringen?

Burg: Wissen Sie, das ist eine Frage, auf die es keine Antwort gibt. Man weiß nicht, wo das hingeht, weil je mehr Zeit verstreicht, umso weniger Möglichkeiten hat man. Und vor zehn Jahren konnten wir keinen palästinensischen Staat haben, so einfach, heute ist es auch sehr schwierig. Ich bin nicht sicher, ob in zehn Jahren wir diese Situation haben, die wir heute haben. Also anstelle über eine Lösung zu reden, gibt es einen Staat oder eine andere Staatenlösung, müssen wir einen Prozess in Gang setzen in einer Art und Weise, dass keine der beiden Seiten davonlaufen kann. Am Ende des Prozesses müssen die beiden Gemeinden, die jüdisch-israelische und die palästinensische Gemeinschaft, müssen irgendwie in einer Weise miteinander leben. Wird es ein demokratischer Staat sein, zwei demokratische Staaten, eine Konföderation? Das Potenzial für Frieden ist möglich, und man sieht es überall im Nahen Osten, aber so, wie sich die Zivilgesellschaften in den arabischen Städten bewegen, gibt es viel Hoffnung – auch wenn man natürlich Bedenken hat. Aber was in Kairo und in Syrien, in Ramallah und in Gaza geschieht, das ist nichts, was beunruhigend ist, sondern eher etwas, was ermutigt.

Schwarz: Der israelische Schriftsteller und frühere Politiker Avraham Burg wirbt für eine Anerkennung des Palästinenserstaates bei der UN-Vollversammlung im September. Herr Burg, herzlichen Dank für das Gespräch.

Burg: Danke.