Cristina Zerr: "Brot und Gesetze brechen"

Links, radikal und christlich

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Porträt von Dorothy Day.
Die Journalistin Dorothy Day gehörte zu den Gründerinnen der Catholic-Worker-Bewegung und setzte sich im Namen des Evangeliums für marginalisierte Menschen ein. © Picture Alliance / AP Photo
Cristina Zerr im Gespräch mit Christopher Ricke · 28.03.2021
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Nächstenliebe und Barmherzigkeit haben auch eine radikale Seite. Cristina Zerr, Herausgeberin des Buchs "Brot und Gesetze brechen", erzählt von militanten Katholiken und einer Kommunistin kurz vor der Seligsprechung: „Anarcho-Äbtissin“ Dorothy Day.
Christopher Ricke: Eine zentrale Aussage der Friedensbewegung: Schwerter zu Pflugscharen! Das Zitat findet man in der Bibel bei mehreren Propheten. Vor über 40 Jahren sind in den USA Aktivisten in eine Atomwaffenfabrik eingebrochen, haben Sprengstoffhülsen zerstört und dann betend auf ihre Festnahme gewartet. Cristina Zerr ist Mitherausgeberin des Buchs "Brot und Gesetze brechen. Christlicher Antimilitarismus auf der Anklagebank". Frau Zerr, Nonnen und Priester protestieren, brechen ein, zerstören. Wie nennt man das? Christliche Anarchie?
Cristina Yurena Zerr: Ja, einige würden das als christlichen Anarchismus bezeichnen, aber nicht unbedingt alle, die in der Bewegung tätig sind, würden sich auch als Anarchisten oder Anarchistinnen bezeichnen, sondern oftmals einfach als gewaltfreier Widerstand, ziviler Ungehorsam – und manche dezidiert aber mit Berufung auf den Anarchismus.

Gewalt oder Sachbeschädigung?

Ricke: Wobei die Gewaltfreiheit im Widerstand sich auf Personen beschränkt. Gegen Dinge, die man zerstört, ist man ja gewalttätig.
Zerr: Ja, da muss man sich natürlich fragen, wenn wir von Gewaltfreiheit sprechen, von welcher Gewaltfreiheit beziehungsweise von welcher Gewalt wir sprechen. Ich denke, wir haben oft ein sehr eingeschränktes Verständnis von Gewalt. Strukturelle Gewalt in Form von Armut, Ausbeutung, Diskriminierung wird oft nicht gesehen, dagegen wird oft die direkte, physische Gewalt als solche wahrgenommen. Bei Gewalt gegen Sachen würde ich nicht von Gewalt, sondern von Sachbeschädigung sprechen.
Eine grundlegende Frage ist, mit welcher Absicht, mit welcher Motivation etwas zerstört wurde. Wenn zum Beispiel ein Haus brennt und die Feuerwehr einbrechen will, dann würde ich nicht sagen, dass die Tür mit Gewalt aufgebrochen wird. Die Motivation war keine gewalttätige. Und da könnte man jetzt die Parallele ziehen.
Wenn in einer Militäranlage Atomwaffen gelagert sind, von denen eine immense Gewalt, strukturelle Gewalt ausgeht, Zerstörung der Umwelt und so weiter, dann ist da eine Gewalt, gegen die protestiert wird. Aus langer Überlegung. Das ist ein langer Weg, der die Menschen dorthin gebracht hat. Und dann würde ich von Sachbeschädigung sprechen, die nicht mit gewaltvoller Absicht passiert, sondern eher aus einer Not, um auf ein größeres Übel aufmerksam zu machen.

Ein Portrait von Cristina Zerr, lange braune Haare und Nasenpiercing, die ernst in die Kamera schaut.
"Wir haben oft ein sehr eingeschränktes Verständnis von Gewalt", sagt Cristina Zerr.© privat
Ricke: Frau Zerr, aktuell gab es ja den Fall der Kings Bay Pflugschar-Bewegung, mit dem Sie sich auch beschäftigen. Das ist ja sehr in der Gegenwart, erzählen Sie doch diese Geschichte mal kurz, was haben die gemacht?
Zerr: Das war am 4. April 2018, am 50. Todestag von Dr. Martin Luther King. Da sind sieben Personen, sieben Christinnen und Christen in die größte U-Boot-Basis der Welt eingebrochen, wo nukleare Sprengköpfe gelagert sind mit einer vielfachen Sprengkraft der Hiroshima-Atombombe. Und gegen die wurde protestiert.
Für diese Aktion haben sich die sieben Menschen zwei Jahre lang vorbereitet in organisatorischer, aber auch in spiritueller Hinsicht. Sie waren stundenlang auf dem Militärgelände, bis sie dann aufgegriffen worden sind und in Untersuchungshaft gebracht wurden. Das hat sehr lange gedauert, bis diese sieben Personen schlussendlich nicht nur angeklagt, sondern auch bis das Urteil rechtskräftig geworden ist. Seit Dezember letzten Jahres sitzen die Aktivistinnen jetzt im Gefängnis für diese Tat.

Die radikale "Anarcho-Äbtissin"

Ricke: Das wussten die ja vorher, dass das kommen kann, und sie haben sich, wie Sie es beschrieben haben, spirituell vorbereitet. Da kommt man, wenn man an diesen Aspekt denkt, schnell zu Dorothy Day. Eine Katholikin, eine Kommunistin, die in der katholischen Kirche kurz vor der Seligsprechung steht. Sie wird mit Martin Luther King in eine Reihe gestellt, gilt aber als "Anarcho-Äbtissin". Sie beschäftigen sich auch mit dieser Frau. Warum ist die heute noch so besonders?
Zerr: Für mich persönlich ist sie eine unglaublich inspirierende Persönlichkeit. Sie und auch die Bewegung, die sie mitbegründet hat in den 30er-Jahren, in der sie über eine praktische Auslegung des Evangeliums geschrieben haben, das wurde bald zur Praxis. Und sie gründeten Häuser der Gastfreundschaft, wie sie es nennen, wo sie marginalisierte Menschen aufnehmen, Menschen, die aus dem Gefängnis kommen, Menschen, die auf der Straße obdachlos sind, Menschen ohne Papiere. Und bis heute gibt es diese Bewegung.
Das heißt, Dorothy Day hat ein Erbe hinterlassen, das bis heute viele Menschen inspiriert, auf eine radikale Art und Weise der Botschaft Jesu nachzugehen und sich mit den ärmsten Menschen in unserer Gesellschaft zu solidarisieren, Barmherzigkeit zu leben, was aber gleichzeitig heißt, auf Unrecht aufmerksam zu machen und Gewalt. Also niemals eine Barmherzigkeit, die nur an der Oberfläche kratzt, sondern wirklich in die Tiefe geht.
Das heißt, in diesen Häusern wird radikale Kapitalismuskritik gelebt, im Sinne einer freiwilligen Armut, aber man schließt sich auch ganz konkret Bewegungen an wie der Black-Lives-Matter-Bewegung oder Extinction Rebellion. Das heißt, es gibt ganz viele Anschlüsse an heutige Bewegungen der Catholic-Worker-Bewegung, sich zurückzubeziehen auf die Wurzeln der Botschaft von Jesus, sich mit den Ärmsten zu solidarisieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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