Martin Luther Kings Erben

Religionsgemeinschaften in den USA werden politischer

Demonstranten bei einem Marsch am Gedenktag für Martin Luther King in Atlanta
Demonstranten bei einem Marsch am Gedenktag für Martin Luther King in Atlanta © picture alliance / dpa / Erik S. Lesser
Von Arndt Peltner · 08.04.2018
Eine Reaktion auf die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten: 50 Jahre nach dem Mord an Martin Luther King in Memphis entdecken religiöse Gemeinschaften in den USA die Politik wieder. Bedeutet das neues Leben für die Bürgerrechtsbewegung?
Es ist Sonntagmorgen im kalifornischen Berkeley. Die kleine, freikirchliche Pfingstgemeinde "The Way" liegt an der University Avenue, die die weltbekannte Universität UC Berkeley mit der San Francisco Bay verbindet. Das Gebäude ist ein unscheinbarer Flachbau, doch wer an diesem Morgen hier vorbeiläuft, kann über den Straßenlärm die lautstarke Band und den Gesang der Gläubigen hören.
Drinnen steht ein kräftig gebauter Afro-Amerikaner, Anfang 40. Pastor Mike, wie ihn hier alle nur nennen, reibt sich mit einem kleinen Handtuch den Schweiß von der Stirn. Er hat sich in seiner fast 50-minütigen Predigt völlig verausgabt. Pastor Mike spricht über Gerechtigkeit, über Sieger und Zurückgelassene in der Gesellschaft, über die aktuelle Situation im Land. Auf die politischen Inhalte seiner Predigt angesprochen, erklärt er:
"Jeder Versuch, sich mit dem System zu beschäftigen, mit dem das Leben der Menschen zu tun hat, benötigt einen moralischen Rahmen. Und ich glaube, das Beste, was Kirche und Glaube anbieten können, versorgt uns zumindest mit einem Gespräch, das historisch und generationsübergreifend ist. Ich bin davon überzeugt, dass Kirche und Politik zusammen gehören."

Teil der US-weiten Initiative "New Nation Rising"

Für Pastor Mike ist dieser moralische Rahmen nicht nur auf seine Gemeinde beschränkt, er engagiert sich in einem US-weiten Netzwerk, zu dem sich zahlreiche schwarze Gemeinden zusammengeschlossen haben: das "Black Church PAC". - PAC steht für "Political Action Committee" und ist Teil der US-weiten Initiative "New Nation Rising". Es ist eine schnell wachsende Bewegung in den USA, die von dem neuen politischen Ton im Land befeuert wird.
Pastor Mike: "Für viele von uns, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen, war die Wahl von Donald Trump, auch wenn sie unglaublich zerstörerisch und terrorisierend war, eine intensive Erfahrung, die viele von uns so ähnlich schon immer, zumindest aber in den letzten 20 Jahren gefühlt haben. Wir haben dem immer widerstanden."
Ben McBride ist der Bruder von Pastor Mike und Co-Direktor von "Pico California", einem Netzwerk aus Glaubensgemeinschaften in Kalifornien mit Sitz in Oakland. Auf lokaler Ebene werden hier Organisationen unterstützt und verlinkt, die sich für ethnische, wirtschaftliche und soziale Gleichberechtigung einsetzen.

Neue Bedeutung durch Trumps Präsidentschaft

Seit mehr als 20 Jahren wächst dieses Graswurzelnetzwerk von den Redwoods im Norden des Bundesstaates bis hinunter zur mexikanischen Grenze. Doch mit dem Wahlkampf und dem Wahlsieg von Donald Trump hat Pico California, so der 40-jährige Ben McBride, noch einmal eine ganze neue Bedeutung erhalten. Es ist zu mehr als nur einem Zusammenschluss von kirchlichen und religiösen Gruppen geworden.
US-Präsident Donald Trump bei einer Pressekonferenz
Der Wahlkampf und Wahlsieg von Donald Trump hat Organisationen wie Pico California Auftrieb verliehen.© imago/Eastnews
Ben McBride: "Wir sehen uns nicht unbedingt als eine Antwort auf jene, die Dr. King einmal 'unsere kranken weißen Brüder' in den Südstaaten und in den Bible Belt-Staaten des Südwestens nannte. Jene, die die Vision einer Gemeinschaft für alle verloren haben. Die nur eine Vision für einige wenige haben, basierend auf Ethnozentrismus und Nationalismus."
McBride betont, dass sie nicht einfach dagegen halten, sondern vielmehr die Vision einer sozial gerechten Gesellschaft verfolgen. Pico California organisiert Communities, schult Führungskräfte, verbindet Gemeinden in Kalifornien und darüber hinaus. Mit der Wahl von Donald Trump wurde die Notwendigkeit eines funktionierenden Netzwerkes offensichtlich:
"Ich glaube, dass es ein Erwachen in den Glaubensgemeinschaften gibt, das dazu führt, dass all die, die an die Wahrheit glauben, an die Kraft der Gemeinschaft, an Liebe und Gerechtigkeit, nicht einfach stillschweigend inmitten der Tyrannei sitzen können. Ich denke, es gibt diese Erkenntnis, dass alles politisch ist. Religion ist politisch, der Gedanke, wer was, wann, wo und wie erhält, ist politisch."

Rassistische Sicht auf Drogenkonsum

Ben McBride zeigt an dem Beispiel des Drogenkonsums, wie Politik in den afroamerikanischen Gemeinden der USA gesehen wird – nämlich als rassistisch:
"Als Schwarze unter Crack- und Kokain-Sucht litten, hatten wir einen 'Krieg gegen die Drogen'. Wenn Weiße unter der Opioid-Sucht leiden, dann haben wir eine Gesundheitskrise. Das ist vielsagend. In den 1980er-Jahren starben hunderttausende Schwarze an Crack und die Antwort waren Panzer und gepanzerte Fahrzeuge in den schwarzen Stadtteilen. Wenn Weiße die gleichen Probleme haben, dann wird überlegt, wie man mehr Entzugskliniken eröffnen kann."
Nicht weit vom Pico California-Büro entfernt, liegt der frühere Freimaurer-Tempel an der Madison Street, der seit über 20 Jahren im Besitz der islamischen Kulturgemeinde in Nordkalifornien ist. Ihr Vorsitzender ist Payman Amiri, der als Student in den 1970er-Jahren aus dem Iran in die USA kam und geblieben ist. Im Dezember wurde das Kulturzentrum über die Grenzen von Oakland hinaus bekannt.
Damals entschied sich die Bürgermeisterin von Oakland, Libby Schaaf, ein deutliches Zeichen zu setzen, und ihre jährliche "State of the City"-Rede im Festsaal des islamischen Kulturzentrums zu halten. Payman Amiri und die islamische Kulturgemeinde hatten sie dazu eingeladen, dieses Signal zu senden. Und Schaaf nahm an. Amiri will das aber nicht als "politische Einmischung" der Muslime verstanden wissen:
"Es kann politisch wirken, aber unsere Mission ist nicht, sich politisch einzumischen, für oder gegen eine bestimmte Politik zu sein, vielmehr stehen wir für Gerechtigkeit. Also, nur weil Terroristen aus bestimmten Ländern kommen, heißt das ja nicht, dass das ganze Land terroristisch ist. Auch nicht, dass eine gesamte Religion für Terrorismus steht. Es ist unsere Aufgabe, die Menschen darüber aufzuklären."

Schwerpunkt interreligiöse Aktivitäten

Auch die Wahl der Musiker, die an der Veranstaltung spielten, konnte durchaus politisch verstanden werden. Die Gruppe, die die Rede der Bürgermeisterin musikalisch einrahmte, nennt sich "Aswat". Ihre Musiker stammen allesamt aus den sogenannten "Travel Ban Countries", die Donald Trump mit einem Einreiseverbot belegt hat.
Payman Amiri: "Unser Fokus liegt auch auf interreligiösen Aktivitäten. Wir sind Teil eines Glaubenstrios: die Kehilla Synagoge, die Montclair Presbyterian Church und das islamische Kulturzentrum, diese drei Organisationen haben eine Partnerschaft geformt. Wir organisieren gemeinsame Veranstaltungen und interreligiöse Kunstausstellungen. Und wir machen gemeinsame Sozialarbeit durch interreligiöse Aktivitäten."
Auch wenn Payman Amiri, Direktor des islamischen Kulturzentrums nicht von offener politischer Arbeit sprechen will – seine Gemeinde mischt sich ein in die lokale und auch überregionale Politik:
"Seitdem wir vor 23 Jahren an den Start gingen, haben wir immer das Wahlrecht von Muslimen gefördert. Es ist jedermanns Verantwortung als Wähler registriert zu sein und wählen zu gehen."
LeAnn Flesher: "Ja, das ist ein Aspekt, die Menschen zur Wahl zu bringen und ihnen klar zu machen, dass andere für dieses Recht gestorben sind, deshalb seid ihr verpflichtet, rauszugehen und zu wählen!"
LeAnn Flesher ist Dekanin des "American Baptist Seminary of the West" mit Sitz in Berkeley. Das über 100 Jahre alte Gebäude steht gleich neben dem "People's Park", dort wo Ende der 1960er-Jahre für die "Free Speech"-Bewegung gekämpft wurde. Die Professoren und die Studierenden des Baptisten Seminars fühlen sich in dieser Nachbarschaft wohl, denn die politischen Forderungen von damals gelten für sie auch heute noch.

Antwort auf den Populismus

Mit dem Wahlkampf von Donald Trump entstand auch die Überlegung, wie man auf die populistischen, nationalistischen und teils rassistischen Äußerungen von Trump antworten sollte. Im Baptisten-Seminar kam der Wunsch auf, mehr darüber zu erfahren, wie man mit dem Glauben auf solch eine Politik reagieren kann.
LeAnn Flesher: "Eine der aktuellen Bestrebungen in den theologischen Seminaren ist es, Theologieprogramme für die Öffentlichkeit aufzubauen. Wir haben in diesem Semester ein 'public theology'- Programm eingeführt. Der Grundgedanke ist, Menschen darin zu unterrichten, ihren Glauben auf die Straße zu bringen, also weg vom Pastor und der Kanzel, und damit einen neuen Fokus zu schaffen. Aber es geht auch darum, wie wir unsere Botschaft für die Außenwelt verpacken und sie so attraktiver machen können, um so einen Weg zu finden, die für uns positive Moral und Ethik in Bezug auf gegenwärtige Fragen zu verbreiten."
An einem Samstagmorgen findet eines dieser Seminare in "public theology" statt. Viele der hier Anwesenden sind in "Social Justice"-Organisationen und Kirchen aktiv. Sie sollen auf ihrem Weg gestärkt werden, so LeAnn Flesher:
"Wir hatten das schon auf den Weg gebracht, aber als Donald Trump Präsident wurde, hat das das Feuer noch angefacht ... Sagen wir es so: mit der Wahl von Donald Trump wurde aus einem schon brennenden gemütlichen Kaminfeuer ein großes Signalfeuer."
Dem kann Ben McBride von Pico California nur zustimmen. Für ihn ist klar, dass sich in den letzten Jahren einiges in der Protestbewegung gewandelt hat:
"Ich glaube, die Menschen wachen langsam auf und unsere Aufgabe ist es, herauszufinden, wie wir Benzin auf dieses Erwachungsfeuer gießen können. Als ich 2014 während der Proteste nach den tödlichen Schüssen auf Michael Brown für 40 Tage in Ferguson, Missouri, war, das hat das bei mir ein Aufwachen eingeleitet und mich mehr zu einem radikaleren Protest als zuvor geführt."

Der Ernüchterung unter Obama folgte der Trump-Schock

Mit der Wahl von Barack Obama als ersten afro-amerikanischen Präsidenten des Landes verbanden viele die Hoffnung auf bessere Zeiten. "Hope" und "Change", die Rufe jener Tage, sind jedoch verhallt, gerade auch weil unter Obama mehr illegale Einwanderer als je zuvor abgeschoben wurden. Weil Mike Brown, Treyvon Martin und andere Schwarze von Polizisten erschossen wurden.
US-Präsident Barack Obama 2009 bei Malerarbeiten in einem Haus für obdachlose und vernachlässigte Jugendliche in Washington.
Mit der Wahl von Barack Obama als ersten afro-amerikanischen Präsidenten verbanden viele die Hoffnung auf bessere Zeiten.© dpa / picture alliance / epa Joshua Roberts/Pool
Der Ernüchterung unter Obama folgte der Schock mit der Wahl von Donald Trump. Viele Communities im Land verfielen in eine Art Schockstarre, denn da war auf einmal ein Präsident im Amt, der das weiße Amerika längst vergangener Tage umwarb und Afro-Amerikaner gegen Latinos aufhetzte. Trump betonte erst kürzlich wieder, dass die Arbeitslosigkeit von Schwarzen unter ihm zurückgegangen sei, auch weil mehr und mehr illegale Einwanderer aus dem Süden abgeschoben wurden.
Ben McBride: "Für uns gibt es da nichts zu feiern. Am Ende des Tages glauben wir Afro-Amerikaner, die 400 Jahre lang unter dem amerikanischen Imperium gelitten haben, dass es heißen muss, alle oder keiner. Wir sind lange genug hier, um zu wissen, dass dieses Land immer einen 'Nigger' braucht. Sei es mit schwarzer Hautfarbe, roter oder brauner Hautfarbe – diese Gesellschaft funktioniert einfach nicht ohne."

Verstärkte Proteste im Wahljahr 2018

Amerika erlebt in diesen Wochen und Monaten eine neue, eine gestärkte Protestwelle. Und das in einem wichtigen Wahljahr, den "midterm elections". 2018 wird das Abgeordnetenhaus und mit ihm ein Drittel der Senatoren neu gewählt. Hinzu kommen etliche Gouverneursposten und viele lokale Ämter, die neu besetzt werden müssen. Die verstärkte Vernetzung und Mobilisierung der Kirchen erinnert zeitweise an die Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre.
LeAnn Flesher: "Die Bürgerrechtsbewegung führte zu einem Wandel und hatte deutliche Folgen. Einer der großen Unterschiede, den wir heute sehen ist: die Bewegung heute ist nicht um eine Person, eine Persönlichkeit wie es Martin Luther King Jr. war, angesiedelt. Es gibt eine ganze Reihe Führungspersönlichkeiten und Gruppen überall im Land."
Ben McBride: "Dr. King sagte 1967 in einem Interview mit NBC News: Ich fürchte, dass mein Traum zu einem Alptraum geworden ist. Er sprach von dem Gedanken, dass Amerika Schiffbruch erleiden wird, wenn es sich nicht mit seinen drei Grundübeln Militarismus, Materialismus und Rassismus auseinander setzt. Ich glaube, wir Afro-Amerikaner in diesem Land haben Fehler nach der Bürgerrechtsbewegung gemacht. Im Rückblick kann man sagen, wir haben viel zu sehr nach Integration gestrebt, und ich denke, wir hätten mehr auf den Zusammenhalt bauen sollen. Deshalb haben wir aufgehört eigene Strukturen, wie Geschäfte und Schulen aufzubauen."
Und genau daran arbeitet heute Pico California. Das Ergebnis: Die Vernetzung und Stärkung auf lokaler und regionaler Ebene und das aktive Einmischen in die Politik. Die ersten Erfolge sind bereits sichtbar und haben das Weiße Haus und viele Republikaner im Kongress alarmiert. Bei der Wahl um den freigewordenen Senatsposten in Alabama im vergangenen Dezember konnte mit einem massiven Kräfteeinsatz die Wahl des republikanischen Rechtsaußenkandidaten Roy Moore verhindert werden.

Gezielte Arbeit an der Basis hat Erfolg

Wähler wurden informiert und registriert. Das Ergebnis war der Wahlsieg des demokratischen Kandidaten Doug Jones in einem traditionell republikanischen Bundesstaat. Es war ein Erfolg gezielter Basisarbeit, die zu einem Vorbild für die kommenden Wahlkämpfe in diesem Jahr und 2020 werden könnte.
Pastor Mike: "Ich glaube, Donald Trump war für uns eine Offenbarung. Er hat uns gezeigt, wie es noch immer im Herzen vieler Amerikaner aussieht. Viele von uns hatten gehofft und gedacht, dass davon einiges ausgemerzt sei, aber manchmal ist es wohl gut zu wissen, wer für einen ist und wer nicht. Ich sehe das als ein Geschenk von Donald Trump. Und ich glaube, wir werden den 'Trumpismus' besiegen."
Vor über 50 Jahren, am 4. April 1968, wurde Martin Luther King Jr. ermordet. Schon damals wurden in den Gemeinden "social justice" und "equality", soziale Gerechtigkeit und Gleichheit eingefordert. Der Ruf danach ist nie verhallt, er wurde nur leiser. Doch damit ist nun Schluss. Die "Civil Rights"- Bewegung in den USA erlebt einen zweiten Frühling. Ben Mc Bride warnt aber vor zu viel Optimismus:
"Für mich ist das keine schnelle Sache. Ich bin jetzt 40 Jahre alt, und ich weiß nicht, ob ich den Sieg unserer Sache erleben werde. Aber ich weiß, dass ich und andere diesen Kampf ausfechten müssen, damit hoffentlich meine Enkel zu Lebzeiten ein Amerika erleben werden, in dem es zu einer wirklichen Versöhnung kommen kann."
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