Coronakrise

Hat die Pandemie einen Sinn?

04:31 Minuten
Mann mit verschiedenen Emotionen auf Lottokugeln in seinem Kopf. (Illustration)
Sinnproduktion wird vor allem von jenen betrieben, die das Privileg des Homeoffice haben, sagt Sieglinde Geisel. © imago images / Ikon Images
Ein Kommentar von Sieglinde Geisel · 09.04.2020
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Viele suchen einen Sinn in dem aktuellen Geschehen. Das ist verständlich, sagt die Publizistin Sieglinde Geisel. Sie rät trotzdem dazu, sich eher gesellschaftlicher Missstände bewusst zu werden, die durch Corona noch offensichtlicher geworden sind.
"Wenn der Mensch weiß, wer schuld ist, geht es ihm besser." So heißt es in Sibylle Bergs Roman "GRM". Noch besser geht es dem Menschen allerdings, wenn er nicht nur weiß, wer schuld ist, sondern auch, was das Ganze soll.

Der Mensch erträgt den Zufall nicht

Das Coronavirus ist das Produkt einer Mutation, also ein rein biologisches Phänomen, von niemandem beabsichtigt, ein reines Zufallsprodukt. Der Mensch jedoch ist das Tier, das den Zufall nicht erträgt: Wir bestehen darauf, dass es einen Grund gibt – und möglichst auch einen Sinn.
Die Suche nach den Schuldigen an der Pandemie läuft auf Hochtouren. Nationen schließen ihre Grenzen, als käme das Virus von außen. Auf einmal "rächt" sich so vieles, beispielsweise der Neoliberalismus, der das Gesundheitswesen auf Effizienz getrimmt hat, so dass es nun dem Ansturm womöglich nicht gewachsen ist. Unser Umgang mit Tieren rächt sich, und zwar sowohl die Massentierhaltung als auch der Handel mit Wildtieren und die Vernichtung der Arten.
Wer es eine Nummer größer haben will, kann sich das Ökosystem der Erde als gigantisches Lebewesen denken: Das Coronavirus wäre dann eine "Immunreaktion" des Planeten, "gegen die Hybris des Menschen", wie es der Philosophieprofessor Markus Gabriel kürzlich schrieb. Die Natur atmet auf, weil wir endlich das tun, was Blaise Pascal, Jahrhunderte vor der Klimakrise, als Wundermittel gegen sämtliches Unglück der Menschen empfohlen hat: nämlich zu Hause bleiben. Wer möchte nicht hoffen, dass sich die eine Krise durch die andere austreiben lässt: Wenn es den Klimawandel aufhält, hat das Coronavirus auf einmal einen Sinn.

Sinn verschafft Resilienz

Wenn wir in dem Virus einen Sinn erkennen, kommen wir besser mit den Zumutungen zurecht. Denn Sinn verschafft Resilienz. Das Bedürfnis nach Sinn lässt sich mit der Evolution erklären: Wenn es hart auf hart kommt, haben diejenigen die besten Überlebenschancen, die von einem Sinn getragen werden. "Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie", so formuliert es Friedrich Nietzsche.
Wir sind ungeheuer geschickt darin, den Sinn zu schaffen, den wir brauchen. Mögen Gottes Wege auch unerforschlich sein, an ihrer Sinnhaftigkeit gibt es für die Gläubigen keine Zweifel. Doch auch Nicht-Gläubigen hilft es, wenn sie "an etwas glauben". Das Coronavirus hat nur den Sinn, den wir ihm geben, und so kann man sich derzeit vor Sinnangeboten kaum mehr retten. Dank des Coronavirus schaffen wir es endlich, aus dem Hamsterrad zu steigen! Wir nutzen den Lockdown, um zu meditieren, aufzuräumen, miteinander zu reden. Und wir entdecken eine Solidarität unter Nachbarn, an die wir kaum mehr zu glauben wagten.

Sinnproduktion der Privilegierten

Wir machen das Beste draus, und wir reden darüber, unablässig. Und genau das ist das Problem. Denn diese Form der Sinnproduktion wird vor allem von jenen betrieben, die das Privileg des Homeoffice haben, gern bei festem Gehalt. Je prekärer die Lebensverhältnisse, desto schwieriger wird diese Selbsttherapie.
Schon mit kleinen Kindern sieht es im Homeoffice anders aus, von Familien, in denen die Schwächeren, Kleineren Angst vor Gewalt haben müssen, ganz zu schweigen. Altersheime, Gefängnisse, Flüchtlingslager oder Slums in jeglicher Form: Hier lässt sich die Krise nicht als Chance verkaufen, allein der Gedanke wäre zynisch. Ausgeschlossen von dem Mittelstandsdiskurs sind übrigens sind auch jene schlechtbezahlten Schwerstarbeiter, deren Systemrelevanz wir auf einmal entdecken.
Das Coronavirus hat zwar keinen Sinn, vielleicht aber doch etwas Gutes: Es ist ein Katalysator für Erkenntnis. Es zeigt uns, in welcher Welt wir leben.

Sieglinde Geisel studierte in Zürich Germanistik und Theologie und arbeitet als freie Journalistin. Von 1994 bis 2016 war sie Kulturkorrespondentin der "NZZ". Sie ist für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin tätig und lehrt an der Freien Universität Berlin sowie an der Universität St. Gallen.

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