Corona und Kindeswohl

Keiner weiß wirklich, was in den Familien los ist

06:07 Minuten
Ein Kind sitzt in einem Spielzelt in einem Zimmer.
Geht es Kindern und Jugendlichen gerade gut zu Hause? Aktuell weiß das keiner so richtig. © imago images / Westend61
Von Johannes Kulms · 11.05.2020
Audio herunterladen
Weil viele Kinder und Jugendliche wegen der Coronapandemie nicht mehr in Kitas und Schulen sind, erhalten viele Jugendämter keine Meldungen mehr über mögliche schutzbedürftige Minderjährige. In Kiel versuchen der Kinderschutzbund und das Jugendamt dennoch zu helfen.
Seit dem Beginn der Coronapandemie stellt sich Katharina Handt häufig eine Frage: Wie wird der neue Alltag Kinder verändern?
"Meine kleine Tochter stellt ganz andere Fragen. Was ist mit dem Virus, müssen wir sterben, was ist mit Oma und Opa? Meine Tochter hat versucht, einen Brief zu schreiben an ihre Großeltern, wo sie geschrieben hat, ihr braucht keine Angst zu haben. Ihr sterbt nicht! Sie fängt gerade an zu schreiben, erste Klasse.
Katharina Handt ist hauptamtliche Mitarbeiterin beim Kieler Ortsverband des Deutschen Kinderschutzbunds. Viele Menschen würden sich derzeit bei den Beratungstelefonen melden, der Redebedarf sei offenbar hoch.
"Ganz viele finanzielle Ängste der Eltern jetzt zum Beispiel, dann aber auch der Kinder. Dann haben wir aber auch gehört, die Schule ist ja so weit weg, wann geht das weiter, wie sieht die Zukunft aus, wann kann ich meine Freunde wieder treffen? Wir haben natürlich dann auch Gespräche über Gewalterfahrungen, die stattfinden."
Das Netzwerk des Kieler Kinderschutzbunds funktioniere glücklicherweise auch in Coronazeiten. Die vielen ehrenamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hielten Kontakt per Telefon, aber würden sich inzwischen auch wieder mit Kindern und Familien treffen.
Seit 16 Jahren ist Handt auch als Rechtsanwältin auf den Bereich Familienrecht spezialisiert. Als solche hat sie viele Gerichtsverfahren erlebt, in denen es um Eltern mit Problemen in der Erziehung ging. Und häufig auch um die Frage, unter welchen Bedingungen die Kinder bei ihnen bleiben können. Oft wird dann auf unterstützende Angebote gesetzt.
"Mit dem Tag X, wo es um Leben und Tod ging, ist das plötzlich alles weggefallen. Die Familien sind sich wirklich selbst überlassen. Und wie soll das funktionieren? Keine Schule mehr, Schule, die natürlich Unterstützungs-, Betreuungs-, noch ganz andere Funktionen hat, aber eben auch noch eine Art Kontrollfunktion. Kindergärten, die Kontrollfunktion haben. Familienhelfer, die einfach mit da sind – die brechen alle weg."

Wichtige Kontrollinstanzen sind weggefallen

Dass durch den flächenmäßigen Lockdown der letzten 1,5 Monate wichtige Kontrollinstanzen weggefallen sind, beunruhigt auch das Kieler Jugendamt.
Leiterin Marion Muerköster sitzt in einem großen, hellen Büro im neuen Rathaus. Sie weiß, dass ihr Haus auf die Meldungen von Schulen, Kitas, Polizei und Ärztinnen, angewiesen ist.
580 Familien werden derzeit durch das Kieler Jugendamt betreut. Es sind Familien, die entweder von sich aus um Unterstützung bitten, oder bei denen der Verdacht oder sogar die Gewissheit besteht, dass das Kindeswohl in Gefahr ist. Es sei gelungen, zu allen 580 Familien Kontakt zu halten, sagt Amtsleiterin Muerköster.
"Alle Familien werden gesehen. Oder es wird mit ihnen telefoniert. Oder sie werden per WhatsApp mit Videokonferenz begleitet. Das heißt, wir haben tatsächlich im Moment alle Familien im Auge."
Doch viele Fälle von häuslicher Gewalt gegen Kinder oder seelischer Verwahrlosung bleiben unerkannt. Das war schon vor Coronazeiten so.
Wer weiß, ob nicht in den letzten Wochen viele neue Fälle dazugekommen sind, in Familien, mit denen das Jugendamt bisher nichts zu tun hatte? Marion Muerköster kann nur an Kinder und Eltern appellieren, sich zu melden. Eine neu geschaffene Webseite soll dafür die Möglichkeiten bieten und nebenbei auch mit alten Klischees aufräumen.
"Weil viele haben ja Angst. Das Jugendamt kommt und nimmt sofort die Kinder raus. Und dann habe ich Ärger mit meinen Nachbarn. So ist es ja gar nicht."

Unklarheit über Zustände in den Familien

Beim Googlen zeigt sich aber, dass diese Webseite gar nicht so einfach zu finden ist. Nicht nur in Kiel gibt es Berichte darüber, dass das Jugendamt in Coronazeiten bei einigen Fällen schwieriger zu erreichen sei. Marion Muerköster sagt allerdings, dass ihr Haus weiterhin voll funktionsfähig sei.
Vor wenigen Tagen haben WDR und Süddeutsche Zeitung für eine Recherche von 231 Jugendämtern bundesweit Informationen eingeholt. 43 Prozent der Ämter schätzen, dass die Kinderschutzmeldungen zwischen Mitte März und Mitte April rückläufig oder sogar stark rückläufig gewesen wären.
Doch auch Marion Muerköster weiß, dass solche Tendenzen in zwei Richtungen gedeutet werden können. Es könnte tatsächlich sein, dass hinter den verschlossenen Türen weniger Gewalt in den Familien stattfindet als befürchtet. Der Rückgang der Kinderschutzmeldungen ließe sich aber auch durch den Wegfall von Meldungen aus Schulen und Kitas erklären. Muerköster hofft, dass es schon bald mehr Klarheit gibt.
"Es gibt ja wieder Kinder, die zur Schule gehen. Wir haben diese Notmeldesystematik entwickelt. Die Jugendtreffs sind jetzt wieder an den Start gegangen in Kiel, die Familienzentren gehen jetzt wieder an den Start. Das heißt, es wird sich jetzt abzeichnen, was Sie gerade andeuten. Möglicherweise werden wir jetzt mehr mitbekommen. Diese Woche war es noch nicht so."

Corona setzt auch ungeahnte Kreativität frei

Im dritten Stock eines Kieler Altbaus im Stadtteil Hassee schläft ein großer Hund auf einem roten Sofa. Es ist das Büro von Sven Nottermann. Er ist einer von zwei Geschäftsführern der Kieler Jugend- und Familienhilfe. Auch Nottermann sorgt sich seit Wochen um seine Klienten.
"Aber wir wollen dabei ja auch nicht vergessen, was für tolle Instrumente wir haben, um dem zu begegnen. Und da finde ich, dass ganz viel toll funktioniert hat. Sicherlich ist das kein Grund, sich zurückzulehnen und da nachlässig zu werden. Im Gegenteil, alle müssen besonders aufmerksam sein im Moment und besonders achtsam und doppelt und dreifach gucken. Aber das ist ja allen klar. Und das ist auch mein Eindruck, dass genau das auch geschieht."
Manche Familie würden durch den neuen Alltag mit Corona ungeahnte Aktivität und Kreativität zeigen. Nottermann erzählt von Eltern, die im Laufe einer Videoschalte mit der Jugend- und Familienhilfe ein Piratenschiff in der eigenen Wohnung bauten, in dem sie später mit dem Kind übernachteten. Und manche Jugendliche zeigten sich plötzlich unerwartet hilfsbereit.
"Wir haben hier Projekte gehabt, wo Jugendliche in sozialen Brennpunkten unterwegs waren und in Hochhäusern die Treppengeländer, Türknöpfe und die Türklinken desinfiziert haben, viel Anerkennung aus dem direkten Umfeld dann erfahren haben und dadurch richtig schöne Momente entstanden sind."
Ob es nun am Bürohund liegt oder an Nottermanns Einstellung: Das Bild, das er in der Coronazeit zeichnet, scheint etwas optimistischer als das von Katharina Handt vom Deutschen Kinderschutzbund. Doch in einem Punkt sind sich alle Interviewpartner einig: Es ist höchste Zeit, dass die Kinder und Jugendlichen wieder in die Krippen und Schulen gehen können.
Mehr zum Thema