Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Mitherausgeber des philosophischen Onlinemagazins Slippery Slopes.
Dialektik der Einschränkung
04:42 Minuten
Während die Infektionszahlen steigen, wächst die Sorge über Partyexzesse. Ob im Park oder im Karnevalsverein: Neue Verbote könnten kommen. Doch damit verstrickt sich die Coronapolitik in ein beunruhigendes Paradox, warnt Arnd Pollmann.
Geradezu erbost haben viele auf die Nachricht reagiert, die Regierung von Nordrhein-Westfalen werde den einheimischen Karneval für den diesjährigen Daueraschermittwoch entschädigen, und zwar mit 50 Millionen Euro. Ähnlich empört reagieren die coronabedingt gehorsamen Deutschen sonst nur auf hippiesque tänzelnde Covidioten vor dem Brandenburger Tor, auf das jugendliche Partyvolk in verdreckten Stadtparks oder auf all die gebräunten Urlaubsheimkehrer, die ihren Test nicht selbst bezahlen wollen.
Mit Verboten ins "Repressionsparadox"
Dieser Frust angesichts von verantwortungslosem Spaß beruht sicher nicht bloß auf Neid nach dem Motto: "Ich verzichte im Dienste der Volksgesundheit, und die feiern 'ne Party!". Viele Menschen spüren, dass die unkreative Politik der Freiheitsbeschränkung in die Sackgasse führt – und zwar direkt in ein "Repressionsparadox".
In der ersten Coronaphase war viel vom sogenannten Präventionsparadox die Rede. Es besagt, dass gerade der Erfolg von Zwangsmaßnahmen zu deren kritischer Infragestellung führt, da man ja den konkreten Schaden nicht sieht, der ausgeblieben ist.
Das Repressionsparadox wird stattdessen für die zweite Phase bedeutsam werden: Je länger und stärker die Freiheit gebremst wird, und sei das auch noch so rational und vernünftig, umso heftiger wird sich die gegängelte Freiheit eruptiv andernorts austoben, und zwar zunehmend irrational und unvernünftig.
Räume des begrenzten Exzesses
Der Begriff "Repression" sollte hier nicht als ein politisches Programm autoritär missgünstiger Regierungen verstanden werden, sondern psychoanalytisch. Gemeint ist die oft notwendige Unterdrückung zentrifugaler Triebe, welche die gesellschaftliche Ordnung stören.
Die Frankfurter Schule hat daraus zwei Grundgedanken abgeleitet. Es war Herbert Marcuse, der am Vorabend der Studentenrevolte von 1968 das Prinzip der "repressiven Toleranz" aufdeckte. Die Gesellschaft duldet sehr wohl Abweichung und sogar rauschhafte Entfesselung, solange sich das Partyvolk dabei so verausgabt oder besser noch wegschießt, dass ein echter gesellschaftlicher Umsturz nicht mehr zu befürchten ist. Karneval, Oktoberfest, Urlaub, Drogen, Sex. Die tolerante Duldung dieser Spielräume dient der Systemstabilisierung.
Der zweite Gedanke stammt aus der "Dialektik der Aufklärung" von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Der zivilisatorische Versuch, die wilde Natur unter rationale Kontrolle zu bringen, schlägt in irrationale Unvernunft, ja, in Irrsinn um, wenn die natürlichen Triebe allzu sehr unterdrückt werden.
Man mag es intellektuell belächeln, wenn Menschen, die sich frei fühlen, zu vergnügungssüchtigen Ersatzhandlungen greifen, statt philosophische Bücher zu lesen oder den derzeit so geplagten Hochkulturbetrieb zu besuchen. Was aber, wenn diese Toleranzspielräume des begrenzten Exzesses wegfallen?
Partydrang als Kehrseite des Gehorsams
Eben das erleben wir derzeit: Die unterdrückte Freiheit poppt an vielen anderen Stellen wieder auf und schlägt dort immer häufiger in irrationale Übertreibung um. Als es seinerzeit in britischen Pubs noch die Sperrstunde gab, begann pünktlich vor 23 Uhr das Komasaufen. Blickt man derzeit nach Spanien oder Frankreich, sei die Vermutung gewagt, dass die Brandung der zweiten Welle überall dort besonders heftig anlanden wird, wo die Beschränkungen der ersten Welle entsprechend heftig waren.
Hoffentlich wird sich diese Prognose als falsch erweisen. Die Politik sollte sich trotzdem gewahr werden, dass der Wille zur Party keineswegs das "Andere" des Coronagehorsams ist, sondern dessen Kehrseite: Hätten wir den Shutdown nicht gehabt, hätten wir jetzt andere Probleme, aber eben auch keine Raves im Park.
Vielleicht sind die 50 Millionen Euro für die Karnevalsvereine dann doch gut angelegt – als eine systemstabilisierende Stillhalteprämie.