Corona und die Freiheit

"Jede Freiheitseinschränkung muss gut begründet sein"

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Eine Türklopfer, in Form einer Hand, wird mit einem Hochdruckgerät desinfiziert
Ganz Italien eine Sperrzone. Wie weit dürfen wir im Kampf gegen das Coronavirus die Freiheit beschränken? © Getty Images / NurPhoto / Artur Widak
Stefan Gosepath im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 10.03.2020
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Nach 70 Jahren Frieden sind wir Krisen nicht mehr gewohnt, sagt Stefan Gosepath. Das lässt viele in Europa so geschockt auf das Coronovirus reagieren. Dem Philosophen zufolge müssen wir aufpassen, dass unsere Freiheit jetzt nicht auf der Strecke bleibt.
Österreich macht die Grenze zu Italien dicht, der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte erklärt gleich sein ganzes Land zur Sperrzone und in Bayern dürfen keine Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern stattfinden.
In atemberaubender Geschwindigkeit legt das Coronavirus das öffentliche Leben lahm – und beschränkt auch verfassungsmäßig garantierte Freiheitsrechte. Ist das angemessen oder eine Überreaktion?
"Flächendeckend ganze Viertel oder ganze Städte einzuschließen, finde ich sehr problematisch", sagt der Philosoph Stefan Gosepath. Denn in einer freiheitlichen Demokratie dürfe die Freiheit eines Menschen nur eingeschränkt werden, wenn sie die Freiheit eines anderen bedrohe. Eine solche Bedrohung ist es dem Berliner Philosophieprofessor zufolge, wenn man eine andere Person mit dem Coronavirus anstecke – oder wenn zumindest eine gute Möglichkeit bestünde, dass das geschieht.
Stefan Gosepath im Porträt
"Im Zweifel für die Freiheit", sagt der Philosoph und Autor Stefan Gosepath.© imago/Horst Galuschka
"Aber jetzt nur aus Schutzmaßnahmen oder aus ordnungspolitischen Maßnahmen einzuschränken, das wird schwierig", betont Gosepath. "Und jetzt muss man diese feine Balance hinbekommen. Das wird schwierig, wenn es leicht hektisch und hysterisch wird."

Derzeit kaum Kritik an behördlichen Maßnahmen

Ob uns das gelingen wird oder ob die Situation uns überfordert, wird sich zeigen. Denn, so der Philosoph:
"Wir sind, glaube ich, Krisen nicht mehr gewohnt. Mit 70 Jahren Frieden ist es uns sehr gut gegangen. Wir sind jetzt auf einmal geschockt."
Und so gibt es derzeit kaum Kritik, wenn Behörden freiheitseinschränkende Maßnahmen anordnen.
"Noch nicht", sagt Gosepath. "Ich weiß nicht, wenn italienische Verhältnisse bei uns gelten würden, ob die Bevölkerung dann immer noch das Gefühl hätte, dass es angemessen ist."
Der Philosoph sieht hier allerdings auch die Bürger in der Pflicht: Diese müssten sich verantwortlich verhalten. Wenn man den Eindruck hat, das tun sie nicht, dann müssen sie natürlich auch gezwungen werden, sich verantwortlich zu verhalten."
(uko)

Stefan Gosepath ist Professor für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschenrechte, Verantwortung, Demokratie, Theorien der Vernunft und Rationalität, Moralphilosophie, Ethik und Handlungstheorie. 2017-18 war er Visiting Scholar am Department of Philosophy der New York University und der Columbia University.

Die gesamte Sendung "Der Tag mit Stefan Gosepath" können Sie hier nachhören:
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