Corona und die Folgen

Vor einem Virus sind alle Menschen gleich

Eine Illustration zeigt Gruppe Menschen, die in einem Schraubstock zusammengedrückt werden.
Das Coronavirus hat das Verhältnis zwischen zwischen Ich und Wir verändert, so Sieglinde Geisel. © imago images / Ikon Images / Gary Waters
Ein Einwurf von Sieglinde Geisel · 10.03.2020
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Ein Virus ist unpolitisch, aber es verändert den politischen Raum. Covid-19 erinnert alle egoistischen Teilnehmer der Gesellschaft unweigerlich daran, dass sie einer Herde angehören, meint Sieglinde Geisel. Das könne auch positive Folgen haben.
Das Coronavirus macht Dinge möglich, die bis vor kurzem undenkbar waren: Ohne viel Federlesens werden Messen abgesagt, Quarantänen verhängt, hunderte von Flügen gestrichen.
Das Erstaunliche dabei: Das Coronavirus polarisiert nicht. Keine Partei hat sich den Kampf gegen eine "Corona-Hysterie" auf die Fahnen geschrieben, es gibt weder Sündenböcke noch Verschwörungstheorien. Das Coronavirus ist ein Naturereignis und als solches erst einmal unpolitisch. Was jedoch nicht heißt, dass es keine neuen politischen Verhältnisse schafft.

Trotz freiheitlicher Demokratie: Das Virus schafft Zwänge

In einer Demokratie sind Zwangsmaßnahmen verpönt: "Life, liberty and the pursuit of happiness", auf diese Güter hat jeder Mensch ein unveräußerliches Recht, heißt es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Zwischen das Recht auf Leben, sprich Gesundheit, und das Recht auf Freiheit hat die Pandemie nun einen Keil getrieben: Um das Leben aller zu schützen, kann es nötig sein, auf individuelle Freiheiten zu verzichten. Das fordert der Kategorische Imperativ des Coronavirus.
Vor einem Virus sind alle Menschen gleich, deshalb gibt es keine Ausnahmen. Niemand kann sich aus der Quarantäne freikaufen. Das Virus diskriminiert nicht: Es macht keinen Unterschied zwischen arm und reich, mächtig und machtlos, einheimisch und fremd.
Ja nicht einmal zwischen Mensch und Tier unterscheidet das Virus. Indem es unseren Körper angreift, macht es uns zur Herde, die nur gemeinsam überleben kann. Wenn es um die Impfpflicht geht, sprechen wir daher von "Herdenschutz".
Für uns stolze Individualisten ist das eine Zumutung, deshalb ruft jede Impfpflicht zuverlässig die Impfgegner auf den Plan, so auch beim Inkrafttreten des Masernschutzgesetzes am 1. März. Sofort folgten Verfassungsbeschwerde und Eilantrag: Eingeklagt werden die individuellen Rechte auf körperliche Unversehrtheit und die Erziehung der eigenen Kinder.

Stimmt das Verhältnis zwischen Ich und Wir noch?

Das Coronavirus jedoch hat das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinwohl, zwischen Ich und Wir, verändert. Auf einmal sind wir bereit, auf Dinge zu verzichten, die wir uns niemals verbieten lassen würden: Buchungen für Kreuzfahrten brechen ein, Reisen werden storniert. "Geht doch!", möchte man sagen.
In China wird durch die Drosselung der Industrieproduktion sogar die Luft sauberer. Der Notstand, den die Klimaschutzbewegung vergeblich ausrief, ist mit dem Coronavirus zur Realität geworden. Wir anerkennen, dass der Schutz der Herde in unserem eigenen Interesse ist. Nur bei den Hamsterkäufen kennt das Ego keine Rücksicht.
Einem Notstand begegnet man nicht, indem man auf Vernunft oder Flugscham hofft, sondern durch Regeln, die für alle gelten. Das Virus erlaubt keine Schlupflöcher, das lernen wir gerade. Lässt sich die Erfahrung des Coronavirus auf den Klimawandel übertragen? Dort gilt nicht die Metapher der Herde, sondern die des gemeinsamen Boots. Schaffen wir es also, das Recht der Bootsinsassen auf eine lebbare Zukunft durchzusetzen gegenüber dem Recht des Individuums auf sein SUV, seinen Ferienflug und sein täglich Fleisch?
Das Coronavirus könnte eine Chance sein.

Sieglinde Geisel studierte in Zürich Germanistik und Theologie und arbeitet als freie Journalistin. Von 1994 bis 2016 war sie Kulturkorrespondentin der "NZZ". Sie ist für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin tätig und lehrt an der Freien Universität Berlin sowie an der Universität St. Gallen.

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