Corona, Simulation und Wirklichkeit

Der blinde Fleck in der Statistik

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Nahaufnahme einer grafischen Darstellung statistischer Daten zur Covid-Pandemie
Das Buch des Menschen ist nicht in der Sprache der Mathematik verfasst, gibt Philip Kovce zu bedenken. © picture alliance / Zoonar / Milos Drndarevic
Ein Standpunkt von Philip Kovce · 12.03.2021
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Kaum etwas hat uns in einem Jahr mit Corona so geprägt wie die simulierte Wirklichkeit von Vorhersagen. Wieso der statistische Blick auf die Welt aber stets mit einem grundlegenden Makel behaftet ist, erklärt der Philosoph Philip Kovce.
Die Zahl sei das Wesen aller Dinge, mutmaßte einst der antike Philosoph Pythagoras. Für den Renaissance-Gelehrten Galileo Galilei galt der Grundsatz, dass das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik verfasst sei.
Nicht zuletzt die Coronapandemie scheint den Zahlenfreaks Recht zu geben: Wer das pandemische Einmaleins beherrschen will, der muss sich vor allem mit Statistik und Statistiken befassen.

Mathematische Begriffe prägen den Pandemiediskurs

Von Basisreproduktionszahl bis Sieben-Tage-Inzidenz, von Infektionsrisiko bis Herdenimmunität, von Letalität bis Mortalität – die prägenden Begriffe der Pandemie sind mathematischer Natur. Und gerade, weil sie mathematischer Natur sind, versprechen sie belastbare Aussagen über die virale Wirklichkeit.
Freilich gilt es zu bedenken, dass nicht alles, was nach Zahlen, Daten, Fakten aussieht, ohne Weiteres der real existierenden Wirklichkeit entspricht. Werden Annahmen und Schätzungen bemüht, um epidemiologische Szenarien zu simulieren, kommt diesen Empirie-Fiktionen zunächst kein größerer Wahrheitsgehalt zu als gleichermaßen simulierten Wettervorhersagen oder Konjunkturprognosen.
Doch selbst dann, wenn wir im Buch der Natur sämtliche Gesetzmäßigkeiten über diesen oder jenen Krankheitserreger nachschlagen könnten, selbst dann, wenn weder Unsicherheit noch Manipulation den statistischen Blick je trübten, würden wir von der ganzen Wirklichkeit bloß einen Bruchteil verstehen.
Warum?

Zahlen und Daten fehlt die Sinnlichkeit

Weil wir uns selbst als denkende, fühlende, handelnde Individuen, als selbstbewusste, selbstbestimmte Personen bei dieser Vermessung der Welt außen vor lassen.
Ein Gedankenexperiment des australischen Philosophen Frank Cameron Jackson illustriert diesen Wirklichkeitsverlust anschaulich:
Die farbenblinde Spitzenforscherin Mary widmet sich der Neurophysiologie des Sehens und weiß bestens darüber Bescheid, wie es sich mit der Wahrnehmung von Rot, Gelb, Grün und Blau aus der Dritte-Person-Perspektive, also von außen betrachtet, verhält.

Buch des Menschen nicht mathematisch verfasst

Von der Wirklichkeit der Farbe als Farbe, vom Farbensehen aus der Erste-Person-Perspektive, hat Mary dagegen keinen blassen Schimmer. Während sie Quantitäten noch und nöcher zählen, messen, wiegen kann, bleiben ihr die sinnlichen Qualitäten der Farben völlig unzugänglich. Ihr blinder Fleck ist ausgerechnet da, wo es tatsächlich etwas zu sehen gibt.
Jacksons Gedankenexperiment führt uns die prinzipielle Begrenztheit statistischen Wissens deutlich vor Augen. Diese Begrenztheit besteht gerade nicht in mehr oder weniger großen Dunkelziffern, sondern in der Unmöglichkeit, die Ich-Perspektive auf die Es-Perspektive zu reduzieren.
Anders gesagt: Das Individuum ist der blinde Fleck der Statistik. Das Buch des Menschen ist nicht in der Sprache der Mathematik verfasst. Es handelt nicht von Zahlen, Daten, Fakten, sondern von Freuden und Leiden, Gründen und Zielen – und funktioniert nicht ohne Ich-Erzähler.
Was folgt daraus?

Denken, fühlen, handeln

Zum einen die Erkenntnis, dass es sich lohnt, Wissenschaft aus der Erste-Person-Perspektive zu betreiben. Dazu gibt es vielversprechende Ansätze etwa in der Introspektionsforschung, die sich mit methodisch geschulter, intersubjektiv nachvollziehbarer Selbstbeobachtung beschäftigt.
Außerdem folgt daraus, dass wir uns besonders in Coronazeiten davor hüten sollten, aus statistischen Wahrscheinlichkeiten politische Alternativlosigkeiten abzuleiten. Politik wird in offenen Gesellschaften nicht von Zahlen, Daten, Fakten, sondern von deren blinden Flecken bestimmt: von denkenden, fühlenden, handelnden Individuen, die ihr Zusammenleben frei gestalten.

Philip Kovce, geboren 1986, Ökonom und Philosoph, forscht an den Universitäten Witten/Herdecke und Freiburg im Breisgau sowie am Basler Philosophicum. Er gehört dem Think Tank 30 des Club of Rome sowie dem Forschungsnetzwerk Neopolis an. Jüngst erschienen im Verlag am Goetheanum seine Anthroposophie-Kolumnen "Ich schaue in die Welt. Einsichten und Aussichten".

© Stefan Pangritz
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