Corona-Hotspot Thüringen

Ramelows umstrittene Pandemie-Bilanz

16:02 Minuten
Bodo Ramelow mit Schutzmaske im Foyer des Thüringer Landtages.
Seit März 2020 führt Bodo Ramelow in Erfurt die Minderheitsregierung aus Linkspartei, SPD und Grünen. Im September wird neu gewählt. © imago / Jacob Schröter
Von Henry Bernhard · 09.04.2021
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Thüringen hat seit Monaten die meisten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in Deutschland. Die einen machen Corona-Leugner auf dem Land verantwortlich, andere den Schlingerkurs des Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Argumente gibt es für beide Thesen.
Martin Vogel lebt in Jena, einer Stadt, die es mit den Corona-Regeln von Anfang an sehr genau nimmt. Er war nur zum Einkaufen unter Leuten, sagt er. Wo er sich mit Corona infiziert hat, wisse er nicht.
Anfang März muss es gewesen sein: "Ja, bei mir sind es morgen vier Wochen, dass ich den ersten Test gemacht habe. Da waren aber die vermeintlichen Symptome schon zwei Tage eher." Zum Glück hatte der Jenaer nur sehr milde Symptome.
Seinen Partner Wolfram Stock hat es schlimmer erwischt: "Ich bin dann auch in Quarantäne gegangen und habe am nächsten Tag schon so Gliederschmerzen gehabt. Dann ging es wieder weg. Und dann hatte ich ein paar Tage später Fieber. Es ging bis auf 38,8 Grad hoch, mehrere Tage. Und da hatte ich ein paar Tage Angst, dass ich doch ins Krankenhaus muss. Aber es ging dann wieder besser. Nur noch Husten. Nach zweieinhalb Wochen war ich noch positiv, nach drei Wochen auch. Jetzt habe ich am Samstag erfahren, dass ich wieder negativ bin."

Jeder 20. Thüringer hatte das Coronavirus

Wolfram Stock und Martin Vogel sind zwei von etwa 100.000 Thüringern, die sich bislang infiziert haben. Das heißt, dass mindestens jeder 20. Thüringer infiziert war oder ist. Etwa 3500 sind gestorben. Nur Sachsen hat pro 100.000 Einwohner mehr Corona-Tote zu beklagen.
Thüringens Ministerpräsident, Bodo Ramelow, scheint zunehmend ratlos, wie er im ZDF-Morgenmagazin bekennt. "Ich kann Ihnen sagen, was mir nicht gefällt. Mir gefällt das Virus nicht. Ich würde es genauso gerne loswerden, wie es die Bevölkerung loswerden möchte. Und ich glaube, es ist auch richtig, dass die Bevölkerung genauso müde ist wie auch politikmüde ist. Wir müssen weniger über das Virus an sich reden, sondern mehr über den Menschen, über den Wirt, der trägt es weiter. Und wenn der sich schützt, dann könnten die Infektionszahlen auch in meinem Bundesland deutlich niedriger sein."
Ramelow verweist vorsichtig darauf, dass es vermutlich zu viele Ansteckungen im privaten Rahmen gibt, die von keinem Lockdown, von keiner Schul- oder Geschäftsschließung verhindert würden.

Stadt-Land-Gefälle

Ein Blick auf die Karte macht klar, dass die Welle der Infektionen von Tschechien aus über Sachsen und Bayern nach Thüringen gekommen ist. Sie traf auf eine Bevölkerung, die angesichts der extrem wenigen Corona-Fälle in der ersten Welle im letzten Jahr nachlässig geworden war.
Verstärkt zeigt sie sich auf dem Land und in Kleinstädten, weniger in den großen Städten. So werden einige Städte mit vergleichsweise niedriger Inzidenz von Landkreisen mit doppelt so hohen Ansteckungsraten umgeben.
Petra Dickmann, Intensivmedizinerin und Leiterin des Bereichs Public Health an der Uniklinik Jena, vermutet eine hohe "soziale Kohärenz". "Also, die Art, dass Menschen in ländlichen Regionen sehr intensiv zusammen sind und dass es dort auch, gerade im Verwandten- und Bekanntenkreis darum geht, gar nicht so sehr die allgemeinen Corona-Schutzmaßnahmen zu ergreifen, also Maske zu tragen, Abstand zu halten, sondern tatsächlich mit seinen Kumpels und der Familie in der Garage zu sitzen und – zusammen zu sein! Diese kleinen, informellen Treffen, die ein Infektionsgeschehen befeuern."

Corona-Leugner in ländlichen Gegenden

"FRIEDEN! FREIHEIT! KEINE DIKTATUR!"
Ein paar Schlaglichter der Unbekümmertheit auf dem Thüringer Land drangen nach draußen: Die fröhliche Corona-Leugner-Demonstration in Hildburghausen.
Der illegale Faschingsumzug in Jüchsen, mit Pferden und geschmückten Wagen, aber ohne Masken und Mindestabstand.
Der Unwille von Zweidritteln der Lehrer und Schüler im Landkreis Hildburghausen, sich testen zu lassen, um Infektionsherde zu ermitteln und um einen früheren Schul-Neustart zu ermöglichen.
Aufgebrachte Bürger vor dem Wohnhaus des Bürgermeisters von Floh-Seligenthal, die gegen freiwillige Tests protestierten.
All das, jeweils zu Zeiten und an Orten mit extrem hoher Inzidenz von 300, 400, bis über 600:
Brennpunkte waren da nicht mehr auszumachen, wie der Landrat Thomas Müller in Hildburghausen erklärte: "Es ist nicht mehr nachweisbar, dass wir jetzt eine Quelle haben, die man einer Einrichtung zuordnet oder einem speziellen Bereich zuordnen kann. Es ist überall, in allen Einrichtungen im Landkreis flächenseitig, in allen Bevölkerungsgruppen, in allen Altersgruppen ist ein Eintrag da. Und es ist schon sehr, sehr ernst."

Verbindung zu Wahlverhalten?

Der Jenaer Soziologe und Extremismusforscher Matthias Quent hat die These aufgestellt, dass es eine Verbindung gibt zwischen Zustimmung zur AfD und hohen Corona-Inzidenzen. Beweise dafür hat er nicht, eher Indizien, eine Studie sei in Arbeit.
Aber der Gedanke ist nicht ganz von der Hand zu weisen, gab doch der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke im vergangenen Sommer die Parole aus: "Corona ist vorbei. Und Corona wird auch nicht wiederkommen."
Und von dieser Haltung ist Höcke bis heute nicht wesentlich abgewichen: "Für mich ist diese Corona-Pandemie eine herbeigetestete Pandemie."
Bei einer Wählerzustimmung für die AfD von satt über 20 Prozent – und deutlich höher auf dem Land und in den Corona-Hotspots – wäre ein Zusammenhang zumindest nicht abwegig.

Ramelows Kurs: Warnungen, Lockerungen, Lockdown

Aber auch der Linken-Ministerpräsident Bodo Ramelow hat sich höchst wankelmütig in Sachen Corona verhalten. Ganz zu Beginn hat er fast panisch auf die vielen Corona-Toten in Norditalien verwiesen und vor ähnlichen Zuständen in Thüringen gewarnt.
Nach dem Sommer mit niedrigen Ansteckungs-Zahlen hat er die Gefährlichkeit des Virus relativiert und war gegen den Lockdown im November.
Aber er wurde am 28. Oktober 2020 in der Ministerpräsidentenkonferenz umgestimmt und zeigte sich später einsichtig: "Ich habe mich von Hoffnungen leiten lassen, die sich jetzt als bitterer Fehler zeigen. Ich habe es noch genau im Ohr, dass die Bundeskanzlerin eindringlich gesagt hat: 'Es werden Zahlen auf uns zukommen, da werden wir noch sehr wünschen, dass wir sie wieder hätten.' Und ich muss sagen: Sie hat Recht gehabt und ich habe Unrecht gehabt."
Zu Beginn dieses Jahres dann gab Ramelow wieder eine harte Linie vor: "Wir müssen einfach der Tatsache ins Auge sehen, dass das Virus jetzt erst anfängt, richtig Fahrt aufzunehmen. Und ich merke, dass bei mir in Thüringen gerade die Hütte brennt. Es ist kein Platz mehr für Lockerungen und die Debatte von der Lockerung zur Lockerung."
Nur um wenig später, im Angesicht rasant steigender Corona-Infektionen im Land, zur Bundesgartenschau nach Erfurt einzuladen, die Ende April öffnen soll: "Das Konzept heißt, den Menschen in Westdeutschland deutlich zu machen, wie schön Thüringen ist. Und dass Thüringen in der Mitte Deutschlands liegt, das ist nicht nur unser Anspruch, sondern wir wollen auch damit deutlich machen: Ihr müsst nicht nach Malle fliegen! Ihr könnt auch mal in die Nachbarschaft kommen. Und da gibt es viel zu entdecken. Und das wollen wir ermöglichen."

Noch 96 freie Intensivbetten in Thüringen

Eine völlig unklare Linie in Sachen Corona also vom Ministerpräsidenten. Und seine Koalitionspartner? Während die Grünen eher Durchhalten fordern, will SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee lokale Lockerungen und weniger auf die Inzidenz als auf freie Intensivbetten und die Anzahl der Todesfälle schauen.
Petra Dickmann von der Uni Jena warnt vor einer Überlastung der Intensivstationen: "Ja, wir sind da unter großem Druck in der Intensivmedizin im Moment. Wir sind sozusagen am Überlaufen. Wir haben jetzt eine Belastung von 30 bis 35 Prozent auf Intensivstationen von Covid-Patienten, was dazu führt, dass ein Teil der Krankenversorgung einfach stillsteht und auch, dass Intensivpatienten innerhalb von Thüringen verlegt werden."
Am 7. April sind in Thüringen 205 Intensivbetten mit Corona-Patienten belegt. Es gibt noch knapp 96 freie Intensivbetten.
"Deswegen ist meine Perspektive darauf: Man muss das Infektionsgeschenen mit allen Mitteln eindämmen. Es reicht nicht zu sagen: 'Wir haben noch Platz auf den Intensivstationen, und deswegen geht mal alle schön einkaufen!' Das halte ich für unethisch."

Immerhin: Thüringen impft schnell

Ein Modellversuch zur Lockerung in Weimar in der vergangenen Woche endete mit massiv gestiegenen Infektionszahlen und ohne wissenschaftliche Erkenntnis. Bei den Schulen gibt es ein ähnliches Hin und Her wie in allen Bundesländern. Einige Landkreise mussten die Schulen im März, nachdem sie für die Jüngeren nach monatelanger Schließung wieder geöffnet hatten, nach ein bis zwei Wochen schon wieder schließen. Bildungs- und Sozialministerium widersprechen sich mitunter öffentlich, obwohl sie von der gleichen Partei, der Linken, geführt werden.
Immerhin: Bei den Impfungen hat sich Thüringen vom letzten auf die vorderen Plätze in Deutschland vorgearbeitet – mit inzwischen 15 verabreichten Erst-Dosen pro 100 Einwohner.
Petra Dickmann: "Aus der Politik hört man sehr viel, dass wir sozusagen Impfweltmeister in Deutschland sind. Allerdings ist die Durchimpfungsrate von heute sechs Prozent, die zweifach geimpft sind, natürlich noch keine belastbare Größe, dass man sagen kann: Das ist ein guter Weg aus der Pandemie."
Thüringen bekommt jetzt wegen der Nähe zu Tschechien von der Bundesregierung noch zusätzlichen Impfstoff. Ein Silberstreif am Hotspot-Horizont.

Wahlfaktor Corona-Politik

Im September sind Landtagswahlen. Noch liegt Bodo Ramelows Linkspartei in den Umfragen mit 30 Prozent vorn. Doch die Bürger sind verunsichert und frustriert ob einer Corona-Politik, die keine klare Linie erkennen läßt.
Auch Wolfram Stock und Martin Vogel geht es so: "Na ja, ich glaube, Ramelow hat ein größeres Problem als nur dieses Corona-Krise. Der ist ja insgesamt auch so ein bisschen, wo man denkt: Vielleicht ist ihm jetzt auch einiges zu Kopf gestiegen. Also, das ist irgendwo nicht mehr nachvollziehbar."
"Jetzt beutelt es ihn halt, weil auch die Wahl vor der Tür steht und er sich irgendwie positionieren muss. Und wenn ich höre, dass Herr Ramelow in irgendeiner Sitzung auf seinem Handy daddelt, da kriege ich auch einen dicken Hals."
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