Mitwirkende: Eva Meckbach, Max Urlacher, Barbara Becker und Olaf Oelstrom
Regie: Cordula Dickmeiss
Ton: Hermann Leppich
Redaktion: Dorothea Westphal
NS-Zeit im Comic
Art Spiegelmans Comicklassiker "Maus": Der Zeichner stellte sich selbst als Figur in seiner Geschichte dar. © picture alliance / dpa / Jewish Museum New York
Das Grauen in Bildern
29:46 Minuten
Comics über NS-Vernichtungslager? Heute ist das kein Tabu mehr. Doch das war mal anders: Als der Comic "Maus" 1989 in Deutschland erschien, war diese Form der Auseinandersetzung mit den Nazi-Verbrechen etwas völlig Neues. (Erstsendung am 20.01.2023)
„Ein deutscher Journalist hat mich mal gefragt: Ein Comic über Auschwitz – ist das nicht schrecklich geschmacklos?", erzählt Art Spiegelman in einem Radio-Beitrag des WDR 2012. "Meine Antwort war nein. Ich denke, Auschwitz war schrecklich geschmacklos.“
Da ist der US-amerikanische Comickünstler längst weltberühmt, sein Comic „Maus“ in Dutzende Sprachen übersetzt. Spiegelman hatte darin die Geschichte seiner Eltern, die als polnische Juden NS-Verfolgung und das KZ Auschwitz überlebt hatten und nach New York emigriert waren, festgehalten.
Auschwitz als Comic
„Maus“ wurde zum Bestseller, kam auch in die deutschen Buchläden und stieß hier zunächst auf Kritik. Die Frage war: Ist es angemessen, das Grauen von Auschwitz und den Mord an den Juden in Europa in einem Comic und in Form einer Fabel mit Tieren als Akteuren zu erzählen?
„Die Kritik war: Es wird verharmlost“, sagt die Medienwissenschaftlerin Véronique Sina. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist der Holocaust im Comic. „Kann und darf das populärkulturelle Massenmedium Comic das überhaupt leisten – sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen?“
Inzwischen setzen sich Zeichnerinnen und Zeichner aus der ganzen Welt mit der Judenverfolgung auseinander. Doch als Maus 1989 in Deutschland erschien, war diese Comic-Biografie etwas völlig Neues, zumal Spiegelman sich als Maus-Figur mit in den Comic hineinzeichnete, als späterer Zuhörer seines Vaters und als Künstler am Zeichentisch.
„Es war ein Türöffner“
„Es ist ein Meisterwerk, das nicht an Aktualität verliert“, meint Johann Ulrich, Leiter des Berliner avant-Verlags. Dessen Schwerpunkt sind Comics – auch solche, die Weltpolitik und Geschichte thematisieren. „Es war ein Türöffner. Es hat gezeigt: Diese Comics können auch ernsthafte Themen erzählen.“
Trotz der Vorbehalte in Deutschland: „Maus“ wird nach seinem Erscheinen 1989 ein Erfolg, und Spiegelman wird zum Vorbild für andere Künstlerinnen und Künstler. Bis heute messen sich Comicschaffende an dem Werk, wenn sie sich mit dem Holocaust beschäftigen. In Belgien, Spanien, Frankreich oder auch in Israel erscheinen seit den 1990er-Jahren Comics zum Thema.
Nur deutsche Zeichnerinnen und Zeichner machten lange einen Bogen um den Nationalsozialismus, was vielleicht der Scham des Tätervolks geschuldet ist, aber auch hartnäckigen Vorurteilen gegenüber dem Bildmedium Comic, die den Blick auf seine Stärken verstellen, meint die Medienwissenschaftlerin Véronique Sina.
Sich dem Schrecken nähern
Im Jahr 2014 erscheint die erste deutsche Graphic Novel über eine NS-Täterin. Gezeichnet hat ihn die Münchnerin Barbara Yelin. „Irmina“ basiert auf den Erfahrungen ihrer eigenen Großmutter, die zur Unterstützerin des Naziregimes wurde. Für die Graphic Novel ist Barbara Yelin national und international ausgezeichnet worden.
Seitdem erscheinen vor allem Geschichten von Einzelschicksalen im Nationalsozialismus als Comics. Johann Ulrich vom avant-Verlag zum Beispiel hat mehrere Comics zu Widerstandskämpferinnen herausgegeben. „Ich glaube, es funktioniert über Geschichten, sich dem Schrecken zu nähern“, sagt er. "Ich kann mir nicht vorstellen, eine Graphic Novel zu verlegen, die seitenweise in Leichenberge zoomt oder die schrecklichsten Darstellungen (zeigt), die wir aus Dokumentationen über den Holocaust kennen.“
Einer hat sich aber an die explizite Darstellung gewagt. Im Oktober 2022 ist im Verlag Bahoe Books der Comic „Leben und Sterben in Auschwitz“ erschienen. Fünf Jahre lang hat der Illustrator Dietmar Reinhard an seinem Debüt gearbeitet, wie er erzählt: „Wenn Illustratorenkollegen mich fragten, was machst du, habe ich gesagt: Ich arbeite an meiner Graphic Novel über Auschwitz, und schon war das Thema gegessen. Da hat keiner mehr nachgefragt."
Manche hätten dann noch nachgehakt, warum er sich das antue. "Dann habe ich gedacht, genau deswegen muss man es machen. Weil man es gerade über eine Graphic Novel schaffen kann, das Thema ein bisschen anschaulicher und zugänglicher zu machen und vielleicht den einen oder anderen Jugendlichen zu bewegen.“
Das KZ in all seinen Aspekten
Zu Auschwitz ist alles gesagt und geschrieben – sollte man meinen. Es gibt ein Kalendarium, Zeitzeugenberichte, Geschichtsbücher, Dokumentationen, Filme.
Art Spiegelman hatte in „Maus“ Szenen aus dem Lageralltag in Bilder umgesetzt und damit etwas Neues gewagt. Das hat auch Dietmar Reinhard getan. „Mein Ziel war: Wenn jemand die Graphic Novel – ich nenne es lieber eine Graphic Doku – gelesen hat, sollte er einen Eindruck haben, was Auschwitz gewesen ist, in all seinen Aspekten.“
Passend zur nüchternen Sprache der NS-Bürokratie zeichnet Dietmar Reinhard seine Figuren sachlich, in gleichmäßig dünnem Strich. Jedes Detail ist gestochen scharf: die Totenkopf-Abzeichen an den Uniformen, die Risse im Gemäuer, die Knoten im Stacheldraht. In den Gesichtern ist jede noch so kleine Falte sichtbar. Hinzu kommen blasse Farben. Auschwitz ist eine kalte Welt, selbst wenn Sommer ist.
Grau und schmutzig
Statt auf Schwarz-Weiß-Effekte und Dunkelheit zu setzen, sagte sich Reinhard: "Wie kommt mir Auschwitz vor? Als etwas Graues, unbestimmtes Braunes, nicht das SA-Braun, sondern es ist schmutzig. Es riecht. Ich habe bewusst Grautöne eingesetzt, mit einem leicht schmutzigen Ton und etwas Farbigkeit versehen." Die Hauttöne: ein fahles Beige. Der schwerste Teil seiner Arbeit, sagt Dietmar Reinhard, sei das Lesen der Quellen gewesen – und die Entscheidung, was genau er im Comic umsetzen wollte.
Als Art Spiegelman Mitte der 1970er-Jahre mit der Arbeit an „Maus“ begann, war die historische Forschung zu Auschwitz noch längst nicht so weit wie heute. So kurios es klingt: Zeichnerinnen und Zeichner haben es nun leichter.
„Auch die Historiker:innen machen ja ihre Arbeit und es wird immer mehr geschrieben, immer mehr berichtet, mehr geforscht. Das heißt, es gibt dann auch mehr, was im grafischen Medium Comic verhandelt werden kann", sagt die Medienwissenschaftlerin Véronique Sina. "Was immer noch unterrepräsentiert ist, ist die Perspektive von Frauen, die den Holocaust überlebt haben.“
„Sie hatten ihre Seele verloren“
Allmählich finden auch Erfahrungen aus dem NS-Alltag oder Geschichten aus den von Deutschen besetzten Ländern ihren Weg in die Comics. Eine Graphic Novel aus dem Jahr 2021 zum Beispiel zeigt die Erinnerungen einer Résistancekämpferin in Frankreich: „Die Geschichte von Francine R.“ von Boris Golzio.
Francine war die Cousine seines Großvaters. Ihre Zeit im Widerstand und als Häftling in deutschen Konzentrationslagern hat Johann Ulrich vom avant-Verlag verlegt. Wie in Cartoons sind die Gesichter darin nur angedeutet. Alle Figuren haben zwei Punkte als Augen, einen Strich als Mund – fertig.
„In Ravensbrück starben die Leute in Massen, am Hunger, an der Kälte, weil sie keine richtige Kleidung hatten. Sie waren wie Zombies. Sie hatten ihre Seele verloren. Darum funktioniert es sehr gut, ihnen Gesichter ohne Augen und ohne Mund zu zeichnen. Als ich mich entschied, ihnen nur zwei Punkte als Augen zu geben und einen Strich für den Mund, war es immer noch ein Gesicht mit Ausdruck“, sagt Golzio.
Historische Genauigkeit war ihm wichtig. Nur eine künstlerische Freiheit hat er sich genommen. Die Wahl der Farbe: „Farbe ist Gefühl. Aber ich wollte keine Emotionen in die Zeichnungen bringen. Die entstehen mit der Zeugenaussage, mit Francines Stimme. Jetzt sehen die Bilder wie alte Fotografien aus. Irgendwo zwischen Grau und Braun. Es wäre einfach gewesen, eine wunderschöne Graphic Novel in Schwarz-Weiß zu zeichnen, mit vielen Effekten. Das hätte mich aber zu sehr in den Mittelpunkt gerückt, und der gehört Francine. Es ist ihr Zeitzeugnis.“
Leichte Lesbarkeit – eine Stärke des Comics
„Die Geschichte von Francine R.“ wird inzwischen in Frankreich im Geschichtsunterricht eingesetzt, nicht überraschend in einem der Mutterländer des Comics. In Deutschland ist das noch die Ausnahme. Dabei machen Lehrende durchaus gute Erfahrungen mit dem Bildmedium. Die leichte Lesbarkeit ist eine Stärke des Comics.
Diesem Umstand verdankt eine neue Anthologie ihre Existenz: „Aber ich lebe“. Präsentiert wurde sie im Sommer 2022 beim Comicsalon Erlangen, dem wichtigsten Comicfestival in Deutschland. Sie versammelt die Erinnerungen von vier Jüdinnen und Juden, die den Holocaust als Kinder überlebten – in Comicform, mit Texten als Begleitung. Die Idee dazu hatte Charlotte Schallié. Sie lehrt Germanistik und Holocaust Studies an der University of Victoria in Kanada.
„Es ist in unseren Geschichten sehr wichtig, dass die Überlebenden nicht ausschließlich als Opfer wahrgenommen werden, sondern als Menschen mit Stärken und Schwächen", erzählt sie. "Deshalb war das Ziel, eine Künstlerin mit einem Zeitzeugen zusammenzubringen, ein vertrauensbasiertes Verhältnis aufzubauen und dieses Verhältnis über einen längeren Zeitraum zu begleiten.“
Drei Comic-Schaffende sagten zu: Gilad Seliktar aus Israel, Miriam Libicki aus Kanada und Barbara Yelin aus Deutschland. Für die Anthologie „Aber ich lebe“ porträtiert sie Emmie Arbel, die aus den Niederlanden stammt. Als Kind überlebte sie zwei deutsche KZ. Nach der Befreiung ging sie mit ihren Brüdern nach Israel.
„Ich habe Emmie Arbel besucht und wir hatten vier, fünf Tage Zeit miteinander. Wir haben gesprochen, ich habe diese Gespräche aufgenommen", erzählt Yelin. "Ich habe sie porträtiert. Ich habe Skizzen gemacht. Ich habe auch Fotos gemacht von ihrem Haus. Das sind ganz verschiedene Bilddokumente.“
Die Vergangenheit ist nicht zu Ende
Barbara Yelin merkt: Klassisch von A nach B nach C zu erzählen – das funktioniert hier nicht. Emmie Arbel hat nur Fetzen der Erinnerung an ihre frühe Kindheit. „Was ich dann gemacht habe, ist, die Bildersequenzen, aber auch die Textsequenzen, neu ineinanderzuschieben", sagt Yelin, "weil ich begriffen habe, wie sehr Erinnerung und Gegenwart bei einer Überlebenden wie Emmie Arbel ständig aufeinandertreffen. Erinnerungen setzen immer wieder an bestimmten Stellen des Alltags ein, eine Form der Gleichzeitigkeit. Die habe ich versucht, durch das Ineinanderweben der Szenen darzustellen.“
„Dieses Projekt ist ein laufendes Sich-damit-Befassen“, sagt Charlotte Schallié. „Es ist auch nicht abgeschlossen. Die Vergangenheit ist nicht zu Ende, die Geschichte kann nie abgeschlossen sein. Es gibt auch keine Bewältigung. Es ist immer wieder: sich neu der Geschichte stellen, uns neu positionieren, sie zu hinterfragen und auch zu fragen, wie die Geschichte in die Gegenwart eingreift.“
(DW)
Literatur:
- Maus" von Art Spiegelman
- "Irmina" von Barbara Yelin
- "Leben und Sterben in Auschwitz" von Dietmar Reinhard
- "Die Geschichte von Francine R." von Boris Golzio
- Die Anthologie "Aber ich lebe"