Colum McCannh: Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist? Drei Erzählungen und eine Novelle
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Rowohlt-Verlag, Reinbek 2017
254 Seiten, 19,95 EUR
Einbruch der Gewalt
Colum McCann beschreibt unaufgeregt und frei von Sensation den Einbruch der Gewalt in unser alltägliches Leben. Das wirkt umso verstörender. "Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist" enthält drei Erzählungen und eine Novelle von besonderer Eindringlichkeit.
Beim Versuch, einer Frau gegen ihren Angreifer auf der Straße zu helfen, wurde der Autor Colum McCann niedergeschlagen, er verlor das Bewusstsein und musste mit schweren Knochenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Das war im Sommer 2014. Der irische Romanschriftsteller, der lange Zeit unfähig war zu arbeiten, schrieb sich das traumatisierende Erlebnis von der Seele: in vier Erzählungen, die allesamt von Gewalt handeln und unter dem Titel "Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist?" erschienen sind.
Dabei steht nicht der Angriff selbst im Mittelpunkt, die Schläge des Täters, sondern die verstörenden Folgen, die das Leben des Opfers vollständig aus der Bahn werfen. Zugleich untersucht McCann die Zeit davor, als die Welt noch heil schien, um nur zuzusteuern auf den alles entscheidenden Aufprall, wie er in seinem Nachwort anmerkt: Zwei der Geschichten hatte er vor dem Überfall schon in groben Zügen entworfen, "als würde er seine Zukunft beschreiben".
Drei neue Erzählungen und eine Novelle
Da ist in "Dreizehn Sichtweisen" ein pensionierter Richter, der an einem Wintertag in einem Restaurant der Upper East Side in Manhattan seinen Sohn zum Mittagessen trifft. Als der alte Mann danach das Lokal verlässt, wird er überfallen und kommt dabei zu Tode. Rekonstruiert wird die Tat von Kriminalbeamten mit Hilfe von Überwachungskameras, deren eine im entscheidenden Moment ihren Dienst versagt, weshalb der Mord nie aufgeklärt wird.
In der Titelgeschichte versucht eine junge Soldatin in Afghanistan, an Silvester vergeblich zuhause Sohn und Geliebte anzurufen. Eine Missionsschwester wird in "Frieden" von ihrer mühsam verdrängten Vergangenheit eingeholt, sie begegnet ihrem früheren Folterer wieder, nachdem sie ihn im Fernsehen als honorablen Leiter einer Friedenskommission entdeckt hat. Eine Mutter macht sich in Panik auf die Suche nach ihrem adoptierten Sohn, der über Nacht spurlos verschwunden ist. Trägt sie am Ende selbst die Schuld an diesem tragischen Ereignis? Diese Erzählung, schon einmal unter dem Titel "Verschwunden" separat auf Deutsch erschienen, wirkt in dem Band noch viel eindringlicher, beklemmender.
Kleine Momente aus großer Distanz beobachtet
Denn so verschieden die vier Geschichten auch sind – egal ob im inneren Monolog gehalten, in der distanzierten dritten Person oder aus der Perspektive der neutralen Kriminalbeamten, die mit den Erinnerungen des späteren Opfers parallel geschaltet sind – es sind die Details, die kleinen Momente, die tiefes Unbehagen auslösen. Das helle Blut, das in den Schnee schießt, als der alte Mann fällt. Die Narben auf der Brust, als die Nonne, sich entblößend, ihren Vergewaltiger in einem Drugstore stellt. Das Licht im Schilf, als der kleine Sohn noch unbeschwert auf den Dünen spielte. Die Sterne im afghanischen Nachthimmel, die aussehen wie Einschusslöcher.
McCanns Beschreibungen sind nüchtern, klar, oft stakkatohaft wie die sich überstürzende Wahrnehmung seiner Figuren. Frei von jeder Sensation bewegt sich sein Erzählen vom eben noch behüteten Dasein in die Untiefen der Gewalt, es erkundet die seelischen Blessuren, wenn die Angst unabwendbar gegenwärtig ist, die Angst vor dem Schlag und davor, er könnte sich wiederholen. Das ist radikal unaufgeregt und damit umso verstörender.