Wild und frei

06.03.2007
Der auf wahre Begebenheiten basierende Roman "Zoli" ist ein aufklärerisches, bildendes und starkes Buch, das die volle Aufmerksamkeit des Lesers verlangt. Sorgfältig recherchiert und detailgetreu, begleitet man die junge Protagonistin auf ihrem einsamen Weg und taucht ein in die Welt und das Leben der Roma.
Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg: Zoli Lackowa ist eine junge Roma in der Nähe von Bratislava. Geschützt durch ihren Großvater überlebt sie mit knapper Not den Holocaust, und ermuntert durch ihren Großvater lernt sie lesen und schreiben, für eine Zigeunerin damals höchst außergewöhnlich. Als der Krieg vorbei ist, bringt sie die Gedichte ihres Volkes an die Öffentlichkeit, indem sie sie zunächst singend vorträgt und später auch publiziert – unkonventionelle, freigeistige Texte. Damit stößt sie bei der sozialistischen Regierung und auch bei ihrer Familie auf Argwohn, und schon bald wird Zoli von ihrer Sippe verstoßen. Aus Angst vor Sanktionen hält nicht einmal mehr ihr Geliebter, ein irischer Journalist, zu ihr. Zoli, nun eine Ausgestoßene, flieht in den Westen. Ihre Flucht mit ungewissem Ziel dauert drei Jahre. Mit einem Italiener bekommt sie eine Tochter, die viel später – im Jahre 2003 – in Paris einen Kongress für Immigranten leitet. Dort trifft Zoli auch ihren verräterischen Liebhaber wieder.

Der Schwerpunkt des sensationell detaillierten und gut recherchierten Buchs ist die spannende Lebensgeschichte einer starken Frau. Der Roman beruht auf einer wahren Begebenheit. Vor dem Leser entfaltet sich das Panorama eines Europas am Abgrund, das von Krieg, Sozialismus, Sturheit und Kaltem Krieg regelrecht überrollt wird. Genau so ergeht es der Protagonistin: Sie muss sich immer wieder auf neue Situationen einstellen und hat zeitweise überhaupt keine Verbündeten. Dass sie nicht aufgibt, verdankt sie einem eisernen Lebenswillen und der Liebe zur Poesie. Manchmal ist es richtig, dass sie sich auf Traditionen ihres Volks beruft und stützt, andere Male aber kann Zoli nur ihren Eingebungen und ihrem Instinkt vertrauen, um zu überleben, und manchmal hat sie einfach nur Glück.

Der Leser erfährt sehr viel über das Leben der Roma. Der Roman vermittelt den Stolz eines Volks, dem immerzu Gegenwind ins Gesicht bläst. Man bekommt eine Innenansicht des Lebens der Roma, versteht die Vorzüge, die das Leben in Zigeunerwagen gegenüber festen Wohnsitzen hat, und man wird Zeuge einer Ohnmacht, die einem kleinen Volk widerfährt, das sich nicht allen Aspekten der "modernen Zivilisation" widerstandslos unterwerfen will. Als Leser taucht man außerdem in eine zunächst fremde Kultur ein, die einem erst abenteuerlustig vorkommt, sich im Verlauf des Buchs aber als sehr komplex und authentisch erschließt.

Wild und frei sind die beiden Begriffe, die einem einfallen, wenn man beschreiben soll, wie der Roman erzählt ist. "Zoli" folgt keinen strengen Regeln. Der Autor wechselt mehrmals die Erzählperspektive, und er wechselt auch das beschriebene Grundgefühl, das einen als Leser überkommt. Rau- und Sanftheit, Depression und Hoffnung, Schwermut und Ausgelassenheit wechseln einander ab. Die Sprache McCanns ist gewaltig, wenn Leidenschaft beschrieben wird und sie ist einfühlsam, wenn Feingefühl erforderlich ist. Ganz am Anfang mag es etwas schwierig sein, einen Zugang zum Roman zu finden, aber das liegt nicht daran, dass das Buch zu kompliziert, zu abgehoben verfasst wäre, sondern an der Komplexität der Hauptfigur und an deren Schicksal.

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter, Lehrer, Barmann, und als Betreuer für jugendliche Straftäter. Mit 21 Jahren ging er in die USA, seit 1994 lebt er in New York. Er ist verheiratet und hat eine Tochter, Isabella. McCann kennt die Schauplätze seiner Bücher. 1994 erschien in London sein Erzählband "Fischen im tiefschwarzen Fluss", Kurzgeschichten um liebenswürdige Sonderlinge. 1995 kam sein erster Roman heraus, "Gesang der Kojoten", dessen Held nach einer fünfjährigen Weltreise auf der Suche nach seiner verschwundenen Mutter zurück zu seinem alten Vater nach Irland kehrt. Internationale Beachtung bekam Colum McCann für seinen akribisch recherchierten New-York-Roman "Der Himmel unter der Stadt" im Jahr 1997, eine Generationengeschichte über Obdachlosigkeit, Erfolge und Misserfolge in einer reichen Stadt.

Der Roman "Zoli" leistet sich so gut wie keine Schwächen. Das Buch ist sorgfältig recherchiert und geht sensibel mit Fakten und Fiktivem um. Es ist ein aufklärerisches, bildendes und starkes Buch, das man konzentriert und ohne äußere Ablenkungen lesen sollte – nichts für die entspannte Lektüre zwischendurch. Eine echte Empfehlung!

Rezensentiert von Roland Krüger

Colum McCann: "Zoli"
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Rowohlt Verlag 2007
383 Seiten, 19,90 Euro